Nachruf zum Tod von Dick Fosbury am 12. März 2023
Seine revolutionäre Hochsprungtechnik dient dem Equilibrismus seit Jahren als Paradebeispiel eines Paradigmenwechsels. Seit 1896 gilt der Hochsprung als olympische Disziplin. Damals gab es das ungeschriebene Gesetz, zuerst mit den Füssen oder dem Bauch über die Latte zu springen. Fosbury stellte dieses Gesetz 1968 mit seinem „Fosbury-Flop“ buchstäblich auf den Kopf, indem er zuerst rückwärts mit dem Kopf die Latte überquerte.
Der Equilibrismus geht ebenso den Weg eines Paradigmenwechsels, indem er ein ganz anderes, neues sozio-ökologisches Wirtschaftssystem vorschlägt.
Vom Pausenclown zum Olympiasieger: wie Dick Fosbury den Blindflug erfand
Richard Douglas «Dick» Fosbury revolutionierte den Hochsprung, indem er sich in der Luft auf den Rücken drehte und zum Himmel blickte. Der Bahnbrecher von 1968 starb mit 76 Jahren und hinterlässt die Erinnerung an den fröhlichsten, nachhaltigsten Umsturz der Sportgeschichte.
In jedem und in jeder, die heute hochspringen, schwebt er körperlos mit. Denn ohne ihn, den Erfinder, den verborgenen Piloten, würden sie nicht so springen. Und alle sind sie seine Gefolgsleute. Das macht diesen Sprungstil, den Fosbury-Flop, so einzigartig.
Es war das Jahr der Demonstrationen und Aufbrüche. Prager Frühling, Rassenunruhen in den USA, Dutzende niedergeschossener Studenten in Mexiko-Stadt, dem Austragungsort der Olympischen Sommerspiele 1968; Revolten in Paris und Berlin mit Ablegern überall, und die Beatles sangen «Revolution». Dick Fosbury passte in dieses Muster des jungen Kämpfers gegen die verkrusteten Mauern des sportbürokratischen Regelsystems.
Gelächter und Beifallsstürme an den Olympischen Sommerspielen 1968
In Mexiko-Stadt riss über die Mittagsstunde des 20. Oktober 1968 dieser bleiche, drahtige 21-jährige amerikanische Traumtänzer namens Dick Fosbury die 80 000 Zuschauer als eine Art Pausenclown mit seinen unglaublichen, wie eine Verballhornung bisheriger Technik anmutenden Hochsprüngen zu Gelächter und Beifallsstürmen hin. Der Kerl stellte wie ein moderner Ikarus die physikalischen Gesetze buchstäblich auf den Kopf. Er schwebte nach einem gekurvten Anlauf mit abrupter Drehung beim Absprung rücklings, mit dem Gesicht gegen den Himmel, ohne Sichtkontakt über die feindliche Latte.
Was aussah wie eine beschwingte Zirkusnummer, war in Wirklichkeit ein ausgeklügelter Blindflug, der ein millimetrisches motorisches Gedächtnis und Distanzgefühl voraussetzte. Denn der Springer sieht die Latte während der Flugphase nicht mehr. Fosbury verstand als Ingenieur-Student viel von praktischer Physik und erkannte, dass er seinen Körper mit dem Flop-Stil nur noch in der Körperbreite dem Kontakt zur Latte aussetzte. Und nicht mehr von Kopf bis Fuss in ganzer Länge gleichzeitig wie beim herkömmlichen Straddle (zu Deutsch: Bauchwälzer). Die Verletzungsgefahr bei der Rückwärtslandung limitierten neue hohe Schaumstoffmatten, die nach schweren Unfällen beim Stabhochsprung eingeführt worden waren.
Fosbury brauchte, wie fast jeder Erfinder, eine hartnäckige Überzeugungskraft für seine neue Technik. Erst sein fünfter Trainer, Berny Wagner an der Oregon State University in Corvallis, begriff das Potenzial, das in den neuen Bewegungsabläufen steckte. Aber war Dick Fosbury überhaupt der Erfinder?
Denn es existierte auch eine vergessene Erfinderin, die Kanadierin Debbie Brill, heute 70, die als Teenager in den sechziger Jahren mit dem «Brill Bend» im Rückwärtsflug verblüffte, aber noch nicht Schule machte. Das Mädchen und Fosbury sind sich nie begegnet. Eine Zeitungsfotografie aus dem Jahr 1963 könnte auch einen unbekannten Springer namens Bruce Kande als Stilschöpfer ausweisen, der wie ein umgedrehter Käfer über die Latte fliegt. Echter Pionier oder nur ein Scherzbold? Belegt ist hingegen die Bezeichnung Fosbury-Flop, gedruckt bereits 1964 als Bildlegende zu einer Aufnahme Fosburys in der Lokalzeitung «Medford Mail-Tribune».
Im Winter 1967/68 gewann Fosbury als Nobody den Titel an den US-Hochschulmeisterschaften, und die Leichtathletik-Bibel «Track and Field News» brachte ihn als Kuriosum auf die Titelseite. Er siegte auch an den Olympiatrials in Los Angeles, doch der misstrauische Verband setzte eine Wiederholung der Wettkämpfe unter gleichen Bedingungen wie in der dünnen Höhenluft von Mexiko-Stadt an, in Echo Summit in der Sierra Nevada. Bei einem Ausflug wäre Fosbury beinahe im Lake Tahoe ertrunken, er bewies aber im Stichkampf von vier Anwärtern erstaunliche Nervenstärke und übersprang als Einziger und erstmals 2,20 Meter.
Das Wort Flop ändert seine Bedeutung
In Mexiko-Stadt gewann Fosbury Olympiagold, im dritten Anlauf überquerte er 2,24 Meter. Nach seinem Sensationssieg verlegte er sich bald auf sein Studium. Berühmtheit interessierte ihn nicht. Aber sein Stil war wegweisend und wurde rasch kopiert. Ein Flop war nicht mehr der Begriff des Scheiterns oder Hereinfallens auf einen Schwindel, sondern bedeutete das Gegenteil: Jugendlichkeit, Unverbrauchtheit, Dynamik, Verspieltheit, Mut. Vier Jahre später an den Olympischen Spielen in München tauchte die 16-jährige deutsche Schülerin Ulrike Meyfarth wie seine Wiedergängerin auf und verzauberte die Welt mit einem Flop über 1,92 Meter.
Längst wird ausschliesslich der Flop gesprungen, aber es bleibt trotzdem die Frage, welche Technik letztlich besser ist, der Straddle der Vergangenheit oder der Fosbury-Flop. Unbestritten ist: Der Flop stagniert. Das Vergleichsmass ist die Differenz zwischen Körpergrösse und der Bestleistung. Den Weltrekord hält seit 30 Jahren mit 2,45 Metern der kubanische Fosbury-Follower Javier Sotomayor (1,95 Meter gross), Differenz 50 Zentimeter.
Während des kurzen Interregnums von Fosbury hielt der Russe Waleri Brumel, ein Straddle-Maestro und Olympiasieger von 1964, den Weltrekord mit 2,28 Metern, 43 Zentimeter über Kopf. Brumels Karriere endete vorzeitig und dramatisch nach einem Trümmerbruch im Sprungbein, als er nachts mit seiner Geliebten auf dem Motorrad verunglückte. Brumel schrieb später erfolgreiche Theaterstücke und starb 2003 mit erst 61 Jahren.
Auch Fosburys Heldentum verblasste, der fabelhafte High Jumper neigte zu notorischer Bescheidenheit und Einzelgängertum. Er betrieb in Ketchum in den Rocky Mountains, wo der Nobelpreisträger Ernest Hemingway zuletzt gelebt hatte, ein eigenes Landvermessungsbüro. Vor 15 Jahren geriet sein Name wieder in die Öffentlichkeit, als er mitteilte, an Lymphdrüsenkrebs im Bereich der Wirbelsäule zu leiden. Nach sechs Jahren erklärte er den Krebs für besiegt; doch die tückische Krankheit kehrte zurück, daran ist er jetzt gestorben.
Der Tod seines kleinen Bruders wird zum Trauma
Fosbury hatte seinem Biografen Bob Welch erzählt, wie er als junger Publikumsmagnet seinem Weltschmerz entfliehen konnte in den kurzen Momenten der Schwerelosigkeit, wie er Halt suchte zwischen der Euphorie des Fliegens und dem Absturz in die Depression. Denn Fosbury plagte ein Trauma, er glaubte verantwortlich zu sein für den Tod seines Bruders und für die Zerstörung seiner Familie. Sie waren an einem Samstag mit den Fahrrädern unterwegs, er damals 14, der kleine Greg 10, als ein betrunkener Autofahrer den Bruder tödlich verletzte. Die Eltern waren abends tanzen gegangen. Die Tragödie entzweite sie.
Sein Leiden an sich selber war nie quälender als im Jahr vor den Olympischen Spielen von Mexiko-Stadt. Der Einberufung nach Vietnam entging er zwar wegen eines angeblichen Rückenleidens, aber das Stipendium an der Universität drohte er wegen fehlender sportlicher Leistungen zu verlieren, die Studentenverbindung hatte ihn bereits hinausgeworfen, seine Freundin gab ihm den Laufpass.
Es kann sein, dass Dick Fosbury, der Hochspringer, der dem Gewicht der Erde für Augenblicke den Rücken gekehrt hat, den Himmel tatsächlich gesehen hat. Er brauchte nicht einmal auf den Mond zu fliegen wie Neil Armstrong ein Jahr später.
Peter Hartmann, NZZ vom 15. 3. 2023
https://www.nzz.ch/sport/dick-fosbury-vom-pausenclown-zum-olympiasieger-im-hochsprung-ld.1730606