Ausgerechnet Norwegen: Angriff auf die Tiefsee
Das Problem von Literatur ist, dass sie vorgreifen muss, wenn sie auf gesellschaftspolitische Entwicklungen und Gefahren hinweisen will. Aber selbst ein Science-Fiction-Autor sieht die Realität sehr schnell im Rückspiegel auf die Überholspur wechseln. So ist es auch mit unserem „Tahiti-Projekt“ aus dem Jahre 2007 geschehen.
Worum geht es in dem Buch? Hier eine Kurzbeschreibung: Im Jahre 2022 droht die Welt in einem Chaos aus natur- und menschengemachten Katastrophen zu versinken. Zu diesem Zeitpunkt lädt der junge tahitianische Präsident Omai fünfzig internationale Pressevertreter ein, damit sie sich vor Ort ein Bild von der sozio-ökologischen Neuausrichtung der Gesellschaftsinseln machen können, die sich für den radikalen Umbau jahrelang vor der Weltöffentlichkeit abgeschottet hatten. „Wir haben Sie her gebeten,“ beginnt Omai seine Begrüßungsrede, „damit Sie sich davon überzeugen können, dass die menschliche Gemeinschaft funktioniert. Dass sie frei sein kann von Missgunst und Vorteilsnahme, dass die Kluft zwischen arm und reich nicht zwingend notwendig ist. Die Menschheit ist entschieden zu weit gegangen – es ist an der Zeit, wieder Lebensqualität statt Gier und Zerstörung zu produzieren.“
Kurz darauf informiert ein Whistleblower die tahitianische Regierung davon, dass der weltweit größte Energiekonzern Global Oil damit begonnen hat, in den Hoheitsgewässern der Gesellschaftsinseln in großer Tiefe illegal nach Manganknollen zu schürfen, was eine Umweltkatastrophe unvorstellbaren Ausmaßes nach sich ziehen könnte.
Das war eine Romanfantasie, das war Science-Fiction. Nur 17 Jahre später ist sie Realität geworden. Zumindest ist es beschlossene Sache. Das norwegische Parlament hat gerade entschieden, große Gebiete im Nordatlantik für den Tiefseebergbau zu öffnen. In dem 281 000 Quadratkilometer umfassenden Gebiet zwischen Ostgrönland und Spitzbergen lagern nach Schätzungen von Geowissenschaftlern rund 45 Millionen Tonnen Zink sowie 38 Millionen Tonnen Kupfer, also das Doppelte der heute weltweit geförderten Menge. Außerdem soll die Meereskruste große Mengen an Gold, Silber, Mangan, Titan, Kobalt, Nickel und den begehrten „seltenen Erden“ enthalten. Ein Fraß, den sich die unersättliche Konsumgesellschaft unserer Tage nicht entgehen lassen will.
Nun wird das norwegische Öl- und Energieministerium nicht müde zu betonen, dass man beim geplanten Deep Sea Mining großen Wert auf Umweltaspekte legen wolle. Der geplante Abbau soll erst gestartet werden, wenn die betreibende Industrie „verantwortungsvolle Praktiken“ nachweisen kann. Umweltorganisationen und Ozeanologen laufen Sturm gegen das gigantische Vorhaben. Mit dieser Entscheidung, so die Kritiker unisono, setzte Norwegen seinen Ruf als umweltfreundliche und nachhaltige Nation in Brand.
Noch im November 2023 hatten 121 EU-Parlamentarier einen dringenden Appell an die norwegischen Parlamentarier gerichtet, gegen den Tiefseebergbau zu stimmen, weil das Abernten des Meeresbodens irreversible Schäden an Flora und Fauna zur Folge haben würde. Vor kurzem hatten Wissenschaftler die Clarion-Clipperton-Zone untersucht, eine Tiefseegegend im Zentralpazifik, in der mehrere Staaten Manganknollen abbauen wollen. Sie fanden 5578 Tierarten, von denen 92 Prozent bis dahin unbekannt gewesen waren. Die Wissenschaftler betonten ausdrücklich, dass dies nur eine Stichprobe gewesen sei, es vermutlich sehr viel mehr Arten gebe. Die verhängnisvolle Entscheidung des norwegischen Parlaments betrifft zwar nur norwegische Gewässer, es ist aber zu befürchten, dass nun eine Art Wettrennen um die Ressourcen der Tiefsee beginnt, an dem sich viele andere Nationen beteiligen werden.
Im „Tahiti-Projekt“ konnte der illegale Angriff auf die Tiefseeschätze vor Ort noch abgewendet werden. So etwas geht in einem Roman. In der Realität lässt sich der Raubbau an der Natur nicht verhindern.
Das hatte schon Hans Paasche vor über hundert Jahren erkannt. Paasche (1881 – 1920) diente als Marine Offizier in Afrika und kam zu folgender traurigen Erkenntnis:
“Das Leid der geschändeten Natur war niemals, seit die Erde besteht, so groß wie jetzt unter der nichtschonenden Macht des Welthandels, des Verkehrs, der Industrie. Maßlos sind die im Nehmen. Was irgend die Erde an lebender Schönheit und Pracht hervorbrachte, muß ihnen dienen. Solange noch eine Gazelle lebt, deren Fell auf dem Weltmarkt Wert hat, ein Wal im Eismeer, ein Paradiesvogel im Urbusch entlegener Inseln, solange ruht die geschäftige Betriebsamkeit nicht, gepaart mit menschenunwürdiger Gedankenlosigkeit und Kurzsicht.“