Die Kontrolle verloren
Es klingt wie der Plot für einen Umwelt-Thriller, ist aber leider Realität: An den verschiedensten Orten der Welt scheint die Natur gerade verrücktzuspielen. An Stränden im Indischen Ozean und anderswo werden massenhaft Seeigel-Leichen angeschwemmt, Opfer einer mysteriösen Seuche, die sich rasend schnell ausbreitet und in wenigen Tagen ganze Kolonien dahinrafft. Die Wissenschaft befürchtet ein weltweites Seeigel-Sterben mit verheerenden Folgen für die Meere. Woher die Seuche kommt? Man weiß es nicht.
In der Karibik werden Unmengen von Braunalgen an die Strände gespült und ersticken alles Leben. Wo sie auftauchen, verwandelt sich das schönste Ferienparadies in einen unwirtlichen Ort, an dem es übel nach Verwesung stinkt und an dem man statt in kristallklarem Wasser in einer Art Algensumpf badet. Wie sich das verhindern lässt? Man weiß es nicht.
Weltweit bleichen Korallenriffe fast gleichzeitig aus und sterben. Ursache ist eine rätselhafte Erwärmung des Meerwassers sowohl auf der Süd- als auch auf der Nordhalbkugel. Der Temperaturanstieg sprengt die schlimmsten Worst-Case-Szenarien von Klimaforscherinnen und Klimaforschern. Haben sie etwas übersehen? Man weiß es nicht.
Etwas scheint aus dem Gleichgewicht geraten zu sein, und niemand weiß, warum, geschweige denn, wie sich die Balance wiederherstellen lässt. Wahrscheinlich ist, dass all diese Phänomene mit den beiden großen Krisen zusammenhängen, dem Klimawandel und dem Artensterben. Doch so viel Ahnungslosigkeit ist beängstigend. Es zerstört die Illusion, dass die Menschen trotz aller Hiobsbotschaften irgendwie doch noch alles im Griff haben. Dass sie sich, wie im Film, irgendetwas Schlaues einfallen lassen und in letzter Minute noch die Welt retten.
In Wahrheit werden die Rettungsversuche immer verzweifelter und aufwendiger: Es wird überlegt, Seeigel überall auf der Welt einzusammeln und in Aquarien mit künstlich hergestelltem Meerwasser zu halten, damit wenigstens einige Exemplare die große Seuche überleben. Verschiedene Forschungsgruppen versuchen gerade herauszufinden, ob sich die stinkenden Braunalgen-Haufen an den Stränden irgendwie sinnvoll nutzen lassen. Und Korallen werden mit modernster Technik genetisch so verändert, dass sie danach angeblich besser mit hohen Wassertemperaturen zurechtkommen.
Nichts davon hat das Potenzial, den katastrophalen Zustand der Erde wesentlich zu verbessern. Die hilflos anmutenden Bemühungen machen vor allem eines deutlich: Die Menschheit hat die Kontrolle verloren. Der einzige Weg, diese wieder zurückzugewinnen, wäre, den Klimawandel und das Artensterben endlich mit ganzer Kraft zu bekämpfen. Stattdessen wird an den Symptomen herumgedoktert. Oder, noch schlimmer, nach dem Prinzip Hoffnung weitergewurstelt wie immer.
Wie gefährlich und unfassbar verantwortungslos das ist, lässt sich im Kleinen am Fluss Oder veranschaulichen. Vor zwei Jahren sind dort Unmengen von Fischen jämmerlich verendet. Ursache war das Gift einer Brackwasser-Alge, die sich nur entwickeln konnte, weil salziges Abwasser in den Fluss geleitet wurde. Noch immer ist das Wasser der Oder viel zu salzig, weil noch immer Abwasser eingeleitet wird. Jetzt hat sich die Alge wieder vermehrt. Noch produziert sie kein Gift. Ob sie es irgendwann tut? Man weiß es nicht.
Im Großen geht die Menschheit genauso gewissenlos mit dem ganzen Planeten um. Wie viel hält die Erde noch aus? Man weiß es nicht.
Tina Baier
SZ vom 23. 6. 2024