Wie 422 Kohlenstoffbomben das 1,5-Grad-Ziel killen
Banken finanzieren fossile Megaprojekte mit Billionenkrediten. Gleichzeitig schwindet das CO₂-Budget, das bleibt, um die Erderwärmung zu begrenzen, überraschend schnell. Einen kleinen Hoffnungsschimmer gibt es trotzdem.
Gute Nachrichten sind in der aktuellen Weltlage rar, und umso nachvollziehbarer ist der Wunsch nach etwas Positivem. Auch an Journalistinnen und Journalisten, die über die Klimakrise berichten, wird immer wieder herangetragen, doch bitte »auch mal« gute Nachrichten zu verkünden. Was nütze all die »Panik«? Nur ist das leichter gesagt als getan.
Mit gleichem Recht könnte man die Korrespondentinnen und Korrespondenten in Israel oder der Ukraine bitten, doch mal positive Geschichten aus dem Krieg zu erzählen. In Krisen haben Wohlfühlnews aber meist keinen Platz. Das gilt – hat man das große Ganze im Blick – auch für das Thema Klimawandel.
SPIEGEL-Gründer Rudolf Augstein, der am 5. November hundert Jahre alt geworden wäre, prägte einst den Satz: »Sagen, was ist«, und nicht, »Sagen, was man sich wünschen würde«. Die Worte zieren heute eine Wand im SPIEGEL-Gebäude in Hamburg und dienen den Journalistinnen und Journalisten im Haus als Leitsatz bei ihrer Arbeit – auch in dieser Woche.
1,8 Billionen Dollar für internationale Kohle-, Öl- und Gaskonzerne
Zusammen mit einem internationalen Team hat DER SPIEGEL untersucht, wer die großen Kohle-, Öl- und Gasförderungen weltweit finanziert.
Und wie sich das Geschäft mit den fossilen Rohstoffen seit dem Abschluss des Weltklimaabkommens vor acht Jahren entwickelt hat. Immerhin haben sich rund 200 Staaten auf der Uno-Klimakonferenz von Paris im Dezember 2015 dazu verpflichtet, die weltweite Erwärmung möglichst auf 1,5 Grad Celsius, auf jeden Fall aber auf deutlich unter zwei Grad Celsius zu begrenzen.
Das Rechercheteam wertete Datenbanken, Studien und Geschäftsberichte mit Informationen zu Öl-, Gas- und Kohleprojekten von fast 900 Unternehmen aus. Dabei fokussierte es sich auf Fördervorhaben, deren potenzielle Emissionsmenge eine Milliarde Tonnen CO₂ übersteigt, und kombinierte diese mit verfügbaren Informationen zu Geldflüssen von Banken an die Betreiber.
Mit rund 1,8 Billionen Dollar (umgerechnet rund 1,7 Billionen Euro) haben 60 Banken zwischen 2016 und 2022 demnach internationale Kohle-, Öl- und Gaskonzerne finanziert. Der überwiegende Teil davon waren Kredite, um fossile Rohstoffe zu fördern. Insgesamt haben die Geldhäuser indirekt 422 fossile Großprojekte unterstützt. Solche Öl-, Gas- und Kohleprojekte, deren potenzielle Emissionsmenge eine Milliarde Tonnen CO₂ übersteigt, werden auch »Kohlenstoffbomben« genannt.
Von den 422 CO₂-Bomben sind 128 noch in Planung, dort haben die Förderung oder der Abbau noch nicht begonnen. Kurz nach dem Weltklimaabkommen von 2015 starteten ganze 70 Projekte völlig neu – trotz des Bekenntnisses von rund 200 Staaten, den Klimawandel zu stoppen.
Die zwei größten CO₂-Bomben weltweit liegen in den USA: im Permbecken und im Marcellus-Schiefer. Weit oben auf der toxischen Klimaliste steht auch ein Projekt in Ghawar in Saudi-Arabien, dem wohl größten konventionell genutzten Ölfeld der Welt. Vorhaben mit einem enormen Potenzial zur Freisetzung von CO₂ betreffen zudem ein Fördergebiet im patagonischen Vaca Muerta, Ölschiefer-Abbaustätten im kanadischen Alberta und ein Tambey-Vorkommen in der russischen Arktis.
Allein die bereits laufenden Abbau- und Förderstätten würden – komplett ausgeschöpft – mehr als 880 Milliarden Tonnen CO₂ in die Atmosphäre entlassen. Laut dem Weltklimabericht dürfen aber nur noch rund 500 Milliarden emittiert werden, will man das 1,5 Grad Ziel noch erreichen.
Als ob es nicht schon frustrierend genug wäre, dass Geldhäuser sich anscheinend wenig um internationale Abkommen scheren, schrumpft gleichzeitig also auch das Zeitfenster, in dem eine Erwärmung von mehr als 1,5 Grad noch verhindert werden kann. In einer aktuellen Neuberechnung kommen Forschende zu einer verbleibenden CO₂-Menge von nur noch 247 Milliarden Tonnen CO₂ – also rund der Hälfte der früheren Schätzung von 500 Milliarden Tonnen. Allerdings bezog sich der Wert im Weltklimabericht auf die Restmenge ab Anfang 2020, die aktuelle Studie bezieht sich auf die Zeit ab Anfang 2023.
Anteil an der Diskrepanz zur früheren Schätzung hat auch ein neues Computermodell, das den durch Treibhausgase verursachten Klimawandel simuliert. Das Forschungsteam verwendete zudem aktuellere Daten über tatsächliche CO₂-Emissionen und tauende Permafrostböden. Nach dem Rückgang des Ausstoßes im ersten Jahr der Coronapandemie – also 2020 – lag die Menge der weltweiten CO₂-Emissionen 2022 wieder auf Vor-Corona-Niveau bei rund 40 Milliarden Tonnen pro Jahr.
Bei weltweiten Kohlendioxidemissionen auf dem Niveau von 2022 wäre das verbliebene Emissionsbudget in etwa sechs Jahren aufgebraucht, schreibt eine Forschungsgruppe um Robin Lamboll vom Imperial College London diese Woche im Fachjournal „Nature Climate Change“ . Für das zweite Ziel des Weltklimaabkommens, unter zwei Grad Erwärmung zu bleiben, dürfte die Menschheit nach der Berechnung noch rund 1220 Milliarden Tonnen ausstoßen.
Das ist auch in etwa die Summe, die laut der Kohlenstoffbomben-Recherche an CO₂-Emissionen entsteht, wenn alle derzeit geplanten und laufenden Großprojekte von Kohle, Öl und Erdgas voll ausgeschöpft würden (dann wären es rund 1181 Milliarden Tonnen). In diese Budgetrechnung sind kleine Förderstätten, von denen es viele gibt, also nicht eingerechnet. Hinzu kommt der Ausstoß von tauenden Permafrostböden (Methan), Entwaldung, Landwirtschaft und anderen industriellen Quellen wie der globalen Betonproduktion (Brennen von Kalk).
Bleibt die Frage, ob es nicht doch noch einen Hoffnungsschimmer gibt. Von der Energiebranche selbst ist wenig zu erwarten. Bezeichnend war die Antwort des französischen Konzerns TotalEnergies auf eine Nachfrage des Rechercheteams: »Wir investieren weiterhin in neue Ölprojekte, um die wachsende globale Nachfrage zu befriedigen.« Das Unternehmen wolle die Förderung fossiler Rohstoffen bis 2030 »stabilisieren« – und bis 2050 »drastisch drosseln«.
Die Antwort ist wenig befriedigend, wenn bis 2030 laut Uno die Emissionen fast halbiert werden müssten, um das 1,5-Grad-Ziel des Pariser Abkommens noch einzuhalten. Wird die Dekarbonisierung also einfach vertagt? Angesichts der Rekordgewinne – allein TotalEnergies fuhr 2022 einen Rekord-Nettogewinn von rund 36 Milliarden US-Dollar ein – werden die CEOs der Konzerne wohl kaum gerade jetzt mit der Förderung aufhören.
Mehr Hoffnung machen kurioserweise die Banken. Finanzexpertinnen bestätigten dem SPIEGEL, dass sich zumindest europäische Geldhäuser langsam umorientieren. Das liege an strengerer Regulierung. Tatsächlich hat sich messbar schon etwas getan, etwa bei der Deutschen Bank. Laut der Recherche des SPIEGEL und seiner Partner gibt es einen deutlichen Rückgang der Kreditvergaben an klimaschädliche Projekte: Im Jahr 2022 sind demnach nur noch 780 Millionen an neuen Krediten für fossile Unternehmen bewilligt worden, 2016 waren es noch fast neun Milliarden (!). Einige Banken beginnen, besonders schädliche Projekte wie den Abbau von Kohle oder Ölschiefer aus ihrem Portfolio auszuschließen.
»Freiwillig hätten sich nur die wenigsten Banken geändert, aber mittlerweile gibt es Erwartungen an die Rolle der Finanzindustrie beim Klimaschutz, die auch mit einer Reihe von Normen und Vorschriften einhergehen«, sagte Christel Dumas von der ICHEC Brussels Management School dem SPIEGEL.
Das Beispiel verdeutlicht einmal mehr: Veränderungen beim Klimaschutz laufen in der Regel nicht über den Markt, sondern über Regulierung. Von allein werden weder Banken noch Energiekonzerne die Finger vom schmutzigen Geld lassen. Dafür sind die Profite einfach zu hoch.
Autorin: Susanne Götze DER SPIEGEL
Dieser Artikel zeigt einmal mehr, dass zwischen Theorie und Praxis eine große Kluft ist. Beim Pariser Abkommen hat die Welt-Gemeinschaft guten Willen gezeigt. Trotzdem zwingen die negativen Mechanismen des heutigen Wirtschaftssystems, das Gegenteil zu machen. Die Wirtschaftsmaschine kann sich keine Pause leisten.