Die größte Stadt der Welt
Shanghai, Delhi, Kinshasa oder Sao Paulo, welche ist die größte Stadt der Welt?
Es ist nicht einmal annähernd eine der Genannten. Die größte Stadt ist mit ca. 230.000 km² fast so groß wie Großbritannien. Die Stadt liegt in der nordöstlichen brasilianischen saisonalen Trockensavannenregion Caatinga. Caatinga ist ein Wort der Tupi Ureinwohner der Region und bedeutet wegen seinen kleinen dornigen laubabwerfenden Bäumen ‚weißer Wald‘. Ihre Stämme und Äste sehen – von der Sonne ausgebleicht – wie Knochen aus.
Es handelt sich bei der gemeinten Struktur natürlich nicht um eine von Menschen gebaute Stadt. Termiten der Art Syntermes dirus bauten circa 200 Millionen konische Hügel, die eine Höhe von 2,5 Metern und einen Durchmesser von 9 Metern haben. Doch diese Hügel sind keine Nester wie bei vielen anderen Termitenarten, sondern Abraumhalden großer miteinander verbundener unterirdischer Tunnelnetze. Dazu wurden über 10 km3 des Bodens abgelagert. Das entspricht dem 4000-fachen Volumen der Cheopspyramide. Das Alter der recht regelmäßig angeordneten Hügel wurde mit verschiedenen Altersbestimmungsmethoden anhand von Proben aus dem Inneren von elf Hügeln auf bis zu mindestens 3820 Jahre bestimmt.
Der riesigen Anzahl von Hügeln haben die in dieser trockenen Gegend wenigen Anwohner keine Bedeutung beigemessen. Erst durch die Abholzung der Vegetation für die Beweidung wurden sie deutlicher sichtbar. Das führte dazu, dass der britische Insektenforscher Stephen J. Martin im Jahr 2018 über die vielen Erdhaufen rechts und links der Landstraße staunte, die stundenlang den ganzen Weg säumten. Martins erste Vermutung war, dass es sich um die Überreste vom Straßenbau handelte, bevor einer seiner lokalen Begleiter meinte, dass es sich doch nur um Termitenhügel handelt, die zur Landschaft dazu gehörten wie die weißen Bäume.
Bei einer zweiten Forschungsreise zusammen mit dem Ökologen Roy R. Funch bemerkten sie schließlich, um wie viele Hügel es sich wirklich handelt und dass sie das Ausmaß dieser markanten Landschaft eklatant unterschätzt hatten. Sie stellten in ihrem Forschungsbericht fest, dass die Verteilung der Erdhügel mit den räumlichen Mustern der südafrikanischen ‚Heuweltjies‘ (kleine Hügel), den namibischen ‚Feenkreisen‘ und mit den ‚Mima Hügeln‘ (benannt nach der Mima Prairie im US-Bundesstaat Washington benannt) verglichen werden kann. Mit einer statistischen Korrelationsfunktion (Ripley’s k-function) und mit Distanzmessungen weit verstreuter räumlicher Muster an 20 Orten und bei einem mittleren Hügelabstand von 20 Metern ergibt sich eine Hügeldichte von 1800 pro km². Das führt zu den geschätzten 200 Millionen Hügeln. Jeder Hügel besteht aus etwa 50 Kubikmetern Erde, was insgesamt die Ausgrabung von über 10 km³ Erde erfordert. Das macht diese Entdeckung zum größten bekannten Beispiel von Bauwesen in einem Ökosystem durch eine einzelne Spezies.
Die Architekten der Bauten sind in ihrer Lebensweise eng mit dem Ökosystem und dem durch die Trockenheit bedingten periodischen Laubfall verbunden. Die Termiten sind auf die Biomasse des Laubs rund um die Eingänge zu ihren Bauten angewiesen. Sie verlassen ihre Bauten, wenn die Bäume und Sträucher beseitigt werden, doch noch sind sie im Boden vorhanden, der die Hügel umgibt. Die Forscher fanden heraus, dass die räumliche Verteilung nicht durch artspezifischen Wettbewerb oder Aggression bestimmt wurde. Sie nehmen an, dass das Hügelmuster durch organisatorische Prozesse entstanden ist, die durch die starke Vernetzung des Tunnelsystems für den Zugang zu saisonalen Laubfällen vorangetrieben wurden. Das hat über Tausende von Jahren zu einer Optimierung des räumlichen Entfernungsmusters der Hügel geführt. Der nährstoffarme, tonige und saure Boden bedingt die bisher geringe landwirtschaftliche Nutzung, so dass das Kernhügelgebiet weitgehend ungestört durch menschliches Eingreifen geblieben ist.
Die Untersuchung von Hunderten von Hügeln, die durch den Straßenbau geteilt wurden, ergänzt durch eigene Ausgrabungen, hat ergeben, dass jeder Hügel einfach eine amorphe Masse von Erdreich ohne innere Struktur ist. Neu angelegte Hügel enthalten einen einzigen Zentraltunnel, der in den Boden hinunter führt und sich mit einem ausgedehnten Netz von unterirdischen Tunneln und schmalen horizontalen Galerien kreuzt. Diese enthalten geerntete Plättchen toter Blätter oder Brut. Bis heute wurde keine königliche Kammer in oder unter einem Hügel gefunden. Die Tunnel sind nie zur Außenwelt offen, was ihre Nutzung als Lüftungsanlage ausschließt. Die Hügel beinhalten somit keine komplexen Bauten, die normalerweise mit Termitenhügeln in Verbindung gebracht werden.
Wenn Nahrung verfügbar ist, kommen nachts Gruppen von Arbeitern und Soldaten zwischen den Hügeln aus einer Reihe von kleinen provisorischen Röhrchen, die sie von unten freigelegt haben, auf den Waldboden heraus. Diese provisorischen Röhrchen werden nach Gebrauch wieder verschlossen. Gefundene chemische Stoffe könnten bedeuten, dass diese Termiten eine Pheromon-Karte erstellen, die es ihnen ermöglicht, ihre Reisezeit von jedem Ort in der Kolonie bis zum nächsten Müllhügel zu minimieren. Das ausgedehnte permanente Tunnelnetz ermöglicht einen sicheren Zugang zu einer sporadischen Nahrungsversorgung auch bei widrigen Umweltbedingungen. Das Verwenden von Pheromonspuren ist auch bei Ameisenvölkern für ihren Weg zu Nahrungsquellen bekannt.
Wenn jetzt wegen noch längeren Trockenperioden das Laub als Futter knapp wird oder wenn trotz schlechten Bodenvoraussetzungen versucht wird, die Weideflächen immer weiter auszubauen, dann ist die Lebensgrundlage dieser ‚Großstadt‘ massiv gefährdet. Brasiliens Präsident Lula da Silva wird sich an seinen Aussagen von vor seiner Wahl bzgl. Abholzungsstopp messen lassen müssen, auch wenn diese sich auf den Regenwald bezogen haben.
Rudolf Prott
Was lernen wir daraus? Eine Gesellschaft, in diesem Fall Insekten, die nach den Naturregeln wirtschaftet, kann dauerhaft existieren und muss nicht zusammen brechen. Leider haben die Hochkulturen nie gelernt, dauerhaft im Einklang mit der Natur zu leben. Diese sind immer wieder im Laufe der Geschichte zusammen gebrochen. Je mehr Technologie sie entwickelten, desto kürzer die Lebensdauer.
Eric Bihl
Je schneller eine Zivilisation fortschreitet, desto früher stirbt sie, um einer anderen Platz zu machen.
Henry Havelock Ellis
Quellen:
https://www.cell.com/action/showPdf?pii=S0960-9822(18)31287-9