Querdenken: Pflicht, Chance oder Anmaßung?
In der Antike waren es oft Philosophen, die Dinge zu erklären versuchten, die im allgemeinen als von einer höheren Macht gegeben galten, sei es vom jeweiligen Herrscher, den Göttern oder der Kirche. Als die Naturwissenschaften an Bedeutung gewannen, wurde Querdenken zu einer Triebfeder für Kreativität und Innovation. Querdenken ist immer sinnvoll und oft nötig, um ein Problem aus einer neuen Perspektive zu betrachten.
Kopernikus stellte die Welt auf den Kopf, als er aufgrund seiner Beobachtungen das alte geozentrische durch das heliozentrische Weltbild ersetzte. Auch für Charles Darwin waren es praktische Studien, die ihn zu seiner Abhandlung von der Entstehung der Arten veranlassten. Beide hatten insbesondere mit der katholischen Kirche zu kämpfen, die Querdenker als Quertreiber ansah. Die Abweichler von der Norm gefährdeten die bestehenden (Macht-)Verhältnisse.
Erst mit der fortschreitenden Industrialisierung und dem langsam schwindenden Einfluß der Kirche war der Begriff des Querdenkens positiver besetzt und Leute wie Albert Einstein konnten Gedanken mit einigem Wohlwollen formulieren, die zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts selbst für fantasiebegabte Wissenschaftler kaum nachvollziehbar waren. Der Mangel an praktischer Nachprüfbarkeit wurde durch mathematische Postulierung ersetzt. Viele dieser Formeln und Einsteins Folgerungen konnten seither durch hochkomplizierte und teure Versuche bestätigt werden.
Was haben alle berühmten Querdenker gemeinsam?
Ihre Überlegungen basieren auf nachvollziehbaren Tatsachen, seien sie physikalischer, biologischer oder mathematischer (formaler oder statistischer) Art.
Für uns heißt das auch heute querDENKEN statt querGLAUBEN bzw. QUERdenken statt NICHTdenken.
In der Wirtschaft haben besonders große Tech-Unternehmen reagiert: rein vertikale Denkprozesse von oben nach unten wurden mit betrieblichen Vorschlagsmodellen bis hin zu Think-Tanks ergänzt. Es gibt wahrscheinlich keinen Managementratgeber mehr ohne dieses Thema. Betriebe, die solche Humanressourcen nicht nutzen, werden sich auf Dauer nicht durchsetzen und vom Markt verschwinden. Gerade was das Thema Energieverbrauch betrifft, hat nicht nur die Autoindustrie wichtige Zeit verschlafen.
In der Politik ist die Abwesenheit von Querdenkern unter dem Namen Konservativismus bekannt. Manche wollen uns die fehlende Umsetzung alternativer Ideen in völliger Verkennung des Begriffs sogar als Liberalismus verkaufen. Wie gut „der Markt“ funktioniert, haben wir am Beispiel Klimawandel trotz langer Ankündigung schon seit Jahrzenten erkennen müssen.
Auch im gesellschaftlichen Alltag wird heute die Kompetenz des Querdenkens gefordert, wobei manche Geisteswissenschaftler sich als institutionalisierte Querdenker begreifen, die die Schwerpunkte für verschiedene Werte in Beziehung zueinander setzen können. In der Coronakrise spielt der Deutsche Ethikrat diese Rolle. In Diktaturen, Pseudodemokratien und anderen Gesellschaften mit starren Grundeinstellungen ist das Querdenken negativer belegt.
Wenn die selbsternannten Querdenker der Coronakrise behaupten, über den Tellerrand von Medizin, Epidemiologie, Virologie und Pharmakologie hinauszuschauen, dann ist das kein Synonym von Kreativität, sondern die Ablehnung jeder Art von Wissenschaft. Das ist der fundamentale Gegensatz zu Kopernikus, Darwin und Einstein. Die virale Verteilung von substanzlosen Meinungen hat nichts mit dem Begriff Denken zu tun.
Autor: Rudolf Prott