Der singende Pfirsichbaum
„Willst du wirklich wissen, wie es um uns bestellt ist?“ fragte Wilken Armerding und legte seinem Besucher die Hand auf die Schulter: „Dann komm in die Pyramide und lausche einem kompetenten Zeugen…“ Baro war beeindruckt von der gläsernen Konstruktion auf dem Kamm des Pfingstberges, für die man keinen besseren Platz hätte finden können. „Mein Musiksalon!“ sagte Armerding stolz, als sie eintraten.
Der Boden war mit geharktem Kies bedeckt, ausgenommen die kreisrunde Humusschicht in der Mitte, in der der Pfirsichbaum stand. In den Ecken der Pyramide waren leistungsfähige kleine Boxen installiert, wie sie um die Jahrtausendwende benutzt wurden. An der gegenüberliegenden Wand befand sich ein Mischpult sowie mehrere Monitore und Tastaturen, die mit dem Baum durch eine Reihe dünner Kabel Verbindung hatten, deren Elektroden sowohl im Astwerk als auch am Stamm befestigt waren.
„Es ist ja kein Geheimnis mehr, dass Pflanzen miteinander kommunizieren,“ sagte Armerding, „nur hören konnten wir sie bisher nicht. Ich habe nun ein Programm entwickelt, das die elektromagnetischen Schwingungen dieses Baumes in Musik umsetzt. Die Idee ist nicht neu, genau genommen stammt sie von der guten alten NASA. Vielleicht erinnerst du dich an die Planetengesänge, die die Raumfähre Voyager in den neunziger Jahren zur Erde gefunkt hatte. So ähnlich musst du dir das auch hier vorstellen. Mit dem Unterschied natürlich, dass uns ein Baum näher ist als die Ringe des Saturn. Da er mit der Erde verwurzelt ist, kann er uns einiges über ihren Zustand verraten. Setz dich, Philip.“
Baro hockte sich zu Boden, während Armerding hinter dem Mischpult Platz nahm. Ein wabernder, an- und abschwellender Ton füllte den Raum. Baro spürte die dumpfen Vibrationen in seinen Körper kriechen, er schloss die Augen und ergab sich nun ganz dieser Sphärenmusik in Moll, in die sich plötzlich eine Reihe rhythmischer Töne zu mischen schienen, sodass er sich an eine Art Sprechgesang erinnert fühlte. Es war kein Klagelied, das hier aufgeführt wurde, eher ein melancholisches Klanggedicht. Nachdem er eine unbestimmte Zeit fasziniert zugehört hatte, öffnete Baro die Augen. Vor ihm stand der Baum in einer Aura aus Licht, jedes Blatt schien sich ihm entgegen zu neigen. Wie unter Zwang legte er seine Hand an den Stamm. Armerding schaltete den Computer aus.
„Das ist unglaublich,“ nuschelte Baro benommen.
„Er kann auch schreiben,“ sagte sein Freund lächelnd und drehte erneut an den Reglern. „Ich hab mir gedacht, was mit Musik möglich ist, muss auch mit Sprache funktionieren.“ Der Drucker sprang an. „Das Bäumchen würde sich sicher gewählter ausdrücken, wenn nur mein Programm perfekter wäre…“.
Baro starrte gebannt auf die ausgedruckten Zeilen:
„stadt muss sich bücken… prophetische melonen gegen flut… abreise ohne wesenheiten… bilderkreis mit schneefeldern am fuß… schleifen auf spaziergängerinnen haben keine fenster… umwundene Müdigkeiten zweibeinig… weder sand noch pfoten in der wut… unyss schuppenkollektion drei blatt… tausend stäbchen stürzen sieger…“
„Jetzt fängt er mit dem Stabreim an!“ lachte Armerding.
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„Er kann nicht mehr. Schreiben ermüdet ihn zu sehr. Ich hab einen ganzen Ordner solcher Gedichte.“
„Darf ich den Ausdruck mitnehmen?“ fragte Baro.
„Nimm nur. Zu mir spricht er ja noch öfter“.
Baro erinnerte sich an einen sehr alten Film: „Orphee“ von Cocteau. In diesem Film lauschte Jean Marais in seiner Garage ähnlichen Botschaften aus dem Autoradio.
„Pass auf dich auf,“ sagte Armerding, als er seinem Freund zum Abschied in die Jacke half. „Es sind harte Zeiten für Leute wie uns“.
„Ach komm“, wehrte Baro ab, „was soll uns alten Säcken denn noch passieren?“
„Sieht aus, als wüsstest du es nicht. Wir sind denunziert worden. Du, ich und ein paar andere im Umkreis. So etwas sollte man nicht auf die leichte Schulter nehmen.“
„Ich lese diese Infos nicht. Na ja, damit musste man rechnen…“
Während Baro den Pfingstberg hinab radelte, fiel ihm ein, dass er vergessen hatte, Wilken von seinen Umzugsplänen zu erzählen. Er nahm sich vor, seinem Freund noch heute eine Message zu schreiben. Als er das Fahrrad gegen die Gartenmauer lehnte, sah er, dass die Küchenscheibe eingeschlagen war. Auf der Eingangstür prangte in dunkler, noch feuchter Farbe das Sonnenrad, das Symbol der Revolution. Er ging ums Haus und stellte fest, dass nichts weiter beschädigt worden war. Nachdem er eine Flasche Wein geöffnet hatte, rief er die Kommunalnachrichten auf. Wilken hatte recht gehabt: Auf dem Bildschirm prangten sein Konterfei und seine Adresse. Darunter stand geschrieben: „Dr. Philip Baro, in den Jahren vor der Revolution Managementberater der Firmen Hoechst, VW und Siemens. Sagte in einem Interview mit dem Nachrichtenmagazin DER SPIEGEL am 17. Februar 2014: Nirgendwo steht geschrieben, dass Naturgesetze stabile Gesetze sein müssen. Warum sollte nicht der Wille des Menschen zum Naturgesetz werden? Ich halte es für unverantwortlich, dass der Mensch zwar zerstörerisch wirkt, aber davor zurück schreckt, die Zerstörung auch zu wollen. Ich meine also, dass wir eine geeignete Ideologie schaffen müssen, die die Zerstörung begrüßt und dem Menschen eine Schöpferrolle bei der Neugestaltung der Natur zuweist.“
Baro erinnerte sich an dieses Interview, dass ihm damals zweifelhaften Ruhm eingebracht hatte. Allerdings hätte er es nicht für möglich gehalten, dass sein albernes Statement ihn einmal einholen und zur Zielscheibe des Mobs machen würde. Es wurde Zeit, dass er in die Altensiedlung wechselte.
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