Der ignorierte Faktor Zeit
Bei allen Argumenten für und wider verschiedenster Aktionen zum Klimaschutz steht eine Dimension immer im Zentrum: die Zeit. Das gilt besonders, wenn es um Entscheidungen geht, bei denen es nicht nur um mehr oder weniger angenehme oder unangenehme Verschiebungen von Entscheidungen geht. Bei den sogenannten Kipp-Punkten handelt es sich aber um kritische
Schwellenwerte oder Zeitpunkte, bei deren Überschreiten es zu starken und mutmaßlich unumkehrbaren Veränderungen kommt.
Diese Kipp-Punkte haben leider die Eigenschaft zeitlich nicht eindeutig definierbar zu sein. Viele der Folgen des Klimawandels waren bereits in den 80er Jahren bekannt. Seither galt bei allen Verantwortlichen immer nur die Devise: Entscheidungen verschieben, verschieben und noch einmal verschieben. Das ist ein Reflex bei vielen, die zu bequem sind sich mit Verhaltensänderungen oder Einschränkungen zu arrangieren und das wahlweise mit den Begründungen Technologieoffenheit, persönlicher Freiheit oder als eine Frage des Marktes zu entschuldigen.
Der Faktor Zeit wird ignoriert und die Augen davor verschlossen, dass diverse Kipp-Punkte unsichtbar im Raum stehen. Nicht nur Porschefahrer müssen verstehen, dass das Bremsen irgendwann zu spät wirkt, wenn man auf eine Wand zurast. Der Markt mag einiges regeln, aber zeitlich einschätzbar ist eine Wirkung sicher nicht. Persönliche Freiheit endet da, wo sie als Freiheit zur Zerstörung verstanden wird. Offensichtlich unsinnige technische Lösungen und noch gar nicht realisierte Ideen braucht man zwar nicht auszuschließen, aber sie als alleinigen Weg zur Problemlösung zu propagieren kann grob fahrlässig sein.
Das Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung hat Elemente identifiziert, bei denen Kipp-Punkte teils unmittelbar drohen:
- die arktischen und antarktischen Eisschilde
- das arktische Meereis
- den Permafrostboden
- die borealen Nadelwälder
- die Gebirgsgletscher
- die tropischen Korallenriffe
- den Amazonas-Regenwald
- den asiatischen und den Sahelmonsun
- die Atlantikzirkulation
Welcher Temperaturanstieg nach heutigem Wissensstand welche Kippwahrscheinlichkeiten hervorruft ist dieser Publikation des Potsdam-Instituts zu entnehmen:
Selbst wenn man die direkten Folgen ignoriert und nur die Kosten der verlorenen Zeit betrachtet, sind die Konsequenzen ein finanzielles Desaster. Die Bewertung der historischen Kosten der Untätigkeit gegenüber dem Klimawandel wurde in einer Studie*) aus dem Jahr 2020 ausführlich dargelegt.
Es wurden alternative Szenarien zu verschiedenen Zeitpunkten in der Vergangenheit entwickelt, in denen mit bedeutenden Klimaschutzmaßnahmen begonnen worden wäre. Dann schätzte man die bisherigen Gesamtkosten verzögerter Maßnahmen ab. Eine weitere Verzögerung der Schadensbegrenzung kostet demnach bis zu 5 Billionen Dollar pro Jahr zusätzlich. 18 Prozent der simulierten Lösungen ab 1980 erfüllen das 2-Grad-Ziel und 5 % das 1,5-Grad-Ziel. Bei Beginn im Jahr 2020 erfüllen nur 5 Prozent der Simulationen das 2-Grad-Ziel und keine einzige Simulation das 1,5-Grad-Ziel.
Was das Klimaproblem angeht, werfen langfristige Veränderungen Fragen der Gerechtigkeit zwischen den Generationen auf. Der explizite Nutzen und die Kosten für die noch nicht Geborenen lässt sich durch einen „intergenerationellen Abzinsungssatz“ darstellen. Die Autoren geben zu bedenken, dass sie, obwohl sie sich mit einigen Parameterunsicherheiten des Modells befassen, in dieser Studie nicht auf Aspekte wie Bevölkerungswachstum, Arbeitsproduktivität oder die Geschwindigkeit des technologischen Wandels eingehen.
Wie wurde in der Studie vorgegangen?
Zuerst wurde ohne Berücksichtigung der Kosten berechnet durch welche CO2-Einsparung die Pariser Klimaziele von 1,5 bzw. 2 Grad maximaler Temperatursteigerung eingehalten werden können.
Ein Beginn der Klimaschutzmaßnahmen im Jahr 1980 hätte für das 2-Grad-Ziel 1980 bis 2020 einen durchschnittlichen Anstieg der globalen durchschnittlichen CO2-Emissionen um 6 % pro Jahrzehnt erlaubt, verglichen mit dem realen durchschnittlichen Anstieg von 24% pro Jahrzehnt.
Das 1,5-Grad-Ziel hätte von 1980 bis 2015 einen Rückgang um 5% pro Jahrzehnt benötigt.
Spätere Beginnzeiten für die Eindämmung bedeuten ein größeres kurzfristiges Engagement für die Dekarbonisierung.
Die 2 bzw.1,5 Grad Begrenzung mit Maßnahmen erst ab 2020 erfordern standardmäßige Emissionsreduktionen von 30 bzw. 70% pro Jahrzehnt im Zeitraum 2020–2040.
Eine weitere Verzögerung um fünf Jahre erhöht die Dekarbonisierungsmenge 2020–2040 auf 45 bzw. 105% pro Jahrzehnt (was einen nahezu sofortigen Übergang zu negativen Emissionen im 1,5-Grad-Fall impliziert).
Die Spitzenkosten für die Begrenzungsziele bei 2 (1,5) Grad Celsius werden höher und früher erreicht, wenn mit der Eindämmung später begonnen wird. Sie erreichen 15 (17)% des globalen Bruttoinlandsprodukts im Jahr 2085 (2070) bei einem Beginn im Jahr 1990 und 18 (35)% im Jahr 2080 (2035) für einen Start im Jahr 2020. Eine weitere Verzögerung der Schadensbegrenzung kostet nach besten Schätzungen zusätzliche 0,5 (5) Billionen Dollar pro Jahr.
Deutlicher kann man den Zeitfaktor kaum darstellen.
Was meint deutsche Politik dazu?
Friedrich Merz im ARD Morgenmagazin vom 27.4.2023:
„ … wir sind allerdings nicht so im Alarmismus unterwegs wie hier einige in der Bundesregierung und die Welt geht nun in der Tat morgen nicht unter …“
Da sind wir ja beruhigt.
Meteorologe Özden Terli dazu in Panorama am 14.9.2023:
„ … wenn Fakten nicht mehr ernst genommen werden und weichgekocht werden, dann haben wir ein gewaltiges Problem in unserer Gesellschaft, was weit über die Wissenschaftsleugnung hinaus geht. …“
*) Autoren: Benjamin M. Sanderson (Research Director, CICERO, Center for International Climate Research in Norwegen) und Brian C. O’Neill (Direktor des Joint Global Change Research Institute der University of Maryland und des Pacific Northwest National Laboratory)
(Quelle:www.nature.com/articles/s41598-020-66275-4)
Autor: Rudolf Prott