Frank Schirrmacher: Ein Wertkonservativer rechnet ab
FAZ, 15.8.2011 – „Ein Jahrzehnt enthemmter Finanzmarktökonomie entpuppt sich als das erfolgreichste Resozialisierungsprogramm linker Gesellschaftskritik. So abgewirtschaftet sie schien, sie ist nicht nur wieder da, sie wird auch gebraucht. Die Krise der sogenannten bürgerlichen Politik, einer Politik, die das Wort Bürgertum so gekidnappt hat wie einst der Kommunismus den Proletarier, entwickelt sich zur Selbstbewusstseinskrise des politischen Konservatismus.
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Das politische System dient nur den Reichen? Es gibt Sätze, die sind falsch. Und es gibt Sätze, die sind richtig. Schlimm ist, wenn Sätze, die falsch waren, plötzlich richtig werden. Dann beginnt der Zweifel an der Rationalität des Ganzen. Dann beginnen die Zweifel, ob man richtig gelegen hat, ein ganzes Leben lang. Es ist historisch der Moment, wo alte Fahrensleute sich noch einmal zu Wort melden, um zu retten, was zu retten ist.“
So beginnt Frank Schirrmacher, Mitherausgeber der wertkonservativen überregionalen Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ), seinen vor zwei Tagen erschienenen Artikel, der in Wirtschaft und Politik ein Erdbeben ausgelöst hat. Unter dem Titel „Ich beginne zu glauben, dass die Linke recht hat“ rechnet Schirrmacher gnadenlos mit einem bürgerlichen System ab, in dem das „große Versprechen an individuellen Lebensmöglichkeiten sich in sein Gegenteil verkehrt hat“. Ich kann nur jedem empfehlen, sich diesen Artikel sorgsam durchzulesen.
In meinem Roman „Das Tahiti-Projekt“ wird Ernest Callenbach zitiert, Autor des Klassikers „Ökotopia“. Ich hatte das Glück, ihm Anfang der neunziger Jahre in Berkeley begegnen zu dürfen. Schon damals sprach er davon, dass sich in Zukunft völlig neue Allianzen bilden, die das alte Freund-Feind-Schema in unserer Gesellschaft aufbrechen werden. Kirchen und Gewerkschaften, Umweltschutzgruppen und Unternehmer, wertkonservative Politiker und Publizisten – sie alle , so Callenbach, werden sich zusammen schließen, um der durchgeknallten Sekte hemmungsloser Profitgeier, die den Ausverkauf unserer Lebensgrundlagen befördern und in Kauf nehmen, wirkungsvoll zu begegnen. Er appellierte an die großen Konzerne, sich von innen heraus zu erneuern und sich als in die Natur eingebettete Unternehmen zu verstehen.
Originalton Callenbach: „Die Menschheit ist nicht zur industriellen Produktion bestimmt, sondern dazu, sich einen bescheidenen Platz im ausgewogenen Gewebe des organischen Lebens zu suchen. Das würde zwar einen gigantischen Konsumverzicht bedeuten, aber zumindest ihr Überleben garantieren.“
Frank Schirrmacher gehört übrigens zu den Gesprächspartnern, die ich für mein neues Buchprojekt „Das Titanic-Syndrom – Interview mit der Presse“ gewinnen konnte. Ich treffe ihn am 9. November in den Redaktionsräumen der FAZ. Ich freue mich sehr auf diese Begegnung.