Das kurze Zeitalter des Anthropozän oder Die Verweigerung von Verantwortung und die Folgen
Ein Gedankenspiel
Es ist Montag der 27. Oktober 2025.
Wir befinden uns im Amazon Convention Center Vasco Vasques in Manaus Brasilien.
Die 30. Weltklimakonferenz beginnt mit Konsultationen zur Klärung technischer Fragen und um die wesentlichen politischen Themen herauszuarbeiten, bevor sich in der zweiten Woche die hochrangigen Politiker auf Ministerebene treffen.
Der bereits 2022 in Sharm el-Sheikh von besonders betroffenen Staaten geforderte Klimaschadens-Fonds wurde auch bei der 29. Auflage der Konferenz 2024 in Sofia immer noch nicht aufgelegt. Während die Industrieländer weiter über die Höhe der Ausstattung des Fonds streiten und konkrete Verwendungsnachweise fordern, wollen viele Entwicklungsländer im Gegenzug auch nicht auf fossile Energieträger in nennenswertem Umfang verzichten. Brasilien und Indien sind als Schwellenländer bestenfalls zu freiwilligen Zahlungen bereit, wenn sie sich für wichtige Projekte wie den Schutz des Amazonas-Regenwaldes ausgiebig aus diesem Fonds bedienen können. China ist seit Jahren der größte Treibhausgasemittent. Dennoch weigert sich das Land, sich an Klimazahlungen für die Länder des globalen Südens zu beteiligen, sondern sieht sich noch immer als Land, das Zahlungen erhalten sollte. Man sieht sich sogar noch als Entwicklungsland und beruft sich dabei auf OECD-Richtlinien.
Die indische Position ist unverändert: die bereits seit 2008 bestehende Umweltgesetzgebung ist ausreichend, um die Klimaschutzziele bis 2070 umzusetzen. Das würde auch durch die gute Platzierung des Landes im Climate Change Performance Index bestätigt. Explizite Gesetze oder Verordnungen zum Klimaschutz würden die Entwicklung des Landes stören. Die billigen Ölimporte aus Russland hätten den Abstand zu den industriellen Großmächten erfreulich schmelzen lassen. Verschwiegen wird dabei allerdings, dass Indien in den letzten vier Jahren gerade durch den hohen Ölverbrauch um zehn Plätze in diesem Ranking abgerutscht ist. Der russische Koordinator für Umweltfragen Gan Xiao Minzhu lehnt eine Reduzierung von Gas-und Ölexporten, dem fundamentalen Geschäftsmodell des Landes, grundsätzlich ab.
Die USA und China hinterlassen einen zwiespältigen Eindruck. Massiven Ausgaben in regenerative Energien und deren Nutzung in Industrie und Technik stehen weitere Steigerungen bei Öl-, Gas- und Kohleförderung gegenüber. Im Wahlkampf 2020 sprach sich der letzte US-Präsident Biden noch gegen neue Ölfelder aus. Dann vergab seine Regierung mehr Genehmigungen als die Trump-Administration. Klimaschutz muss auch bei seiner Amtsnachfolgerin Harris hinter dem großen Selbstversorgungsziel anstehen. In vielen anderen Ländern war der russische Überfall auf die Ukraine und die Angst vor zu hohen Energiepreisen selbst für grüne Parteien ein Grund für die Befürwortung neuer Ölfelder. Indonesien hat seine Teilnahme an der Weltklimakonferenz aus Protest gegen das Importverbot von Palmöl in die EU und in die USA abgesagt. Australien und Kanada, die noch vor wenigen Jahren die Schlusslichter unter den G20 Staaten bezüglich Klimaschutz waren, streben jetzt zumindest ambitioniertere Ziele an, ohne auf diesem Weg bisher allzu viel erreicht zu haben. Die Kohleförderung in Australien und der Ölschieferabbau in Kanada sind nicht gesunken, weil der politische Wille zu einer Regulierung nicht vorhanden ist.
Die deutsche Delegation ist gerade einmal vier Wochen nach der Bundestagswahl kaum handlungsfähig. Die schwarz-grüne Koalition arbeitet noch an ihren Positionspapieren.
Der umweltaffine aber inzwischen auf zwei Fraktionen aufgesplittete Teil des Parlaments befindet sich jetzt in Regierung und Opposition. In der Koalition hat die weniger fundamentale Partei einen noch größeren Klotz am Bein als in der letzten Legislaturperiode. Außerdem wurde ein Teil der Delegation bestehend aus Mitgliedern verschiedener Umweltschutzorganisationen bei der Abreise nach Manaus am Münchener Flughafen unter Bezugnahme auf das bayerische Ermächtigungsgesetz wegen der „mutmaßlichen Planung terroristischer Aktivitäten“ vorsorglich festgenommen. Der designierte Verkehrsminister Markus Blume will sein neues Verkehrskonzept vorstellen. Anhand der Erfahrungen mit der im Vorjahr eingeweihten sechsspurigen Autobahn von Traunstein nach Berchtesgaden will er zeigen, dass die konsequente Verhinderung jedes Staukilometers bei einer Mindestgeschwindigkeit von 100 km/h Treibstoffverbrauch im Stand auf null reduzieren kann. Eine weitere Gängelung von sowieso schon hart betroffenen Autofahrern sei absolut unnötig und gefährde den Standort Deutschland. „Wir sprechen nicht mehr von schlechtem Klimaschutz. Wir sprechen von Arbeitsverweigerung“, kommentierte die Klimaaktivistin Luisa Neubauer einst Blumes Vorgänger. Das scheint angesichts der miserablen Ergebnisse des Verkehrssektors bei der Emissionseinsparung amtsevident zu sein.
Was bisher aus Manaus zu hören ist, lässt eine Trendumkehr oder zumindest eine Verlangsamung des Klimawandels unwahrscheinlich erscheinen. Bereits vor Abschluss der Konferenz ist klar, dass das 1,5-Grad-Ziel von Paris unerreichbar ist. Es wird bereits in diesem Jahr überschritten.
Folgen waren unter anderem die massiven Überschwemmungen in Mumbai im Juni und die Flutkatastrophe von Jakarta im Februar, wo mindestens 85.000 der noch nicht in die neue Hauptstadt Nusantara umgesiedelten Einwohner in den tiefer gelegenen Stadtteilen ihr Zuhause verloren. Ein Bruch des Dreischluchtendamms in China konnte vorige Woche nur durch ein Fluten der unterhalb liegenden Gebiete verhindert werden. Opferzahlen sind noch nicht bekannt. Der Ausfall von 12 der 20 Kraftwerksturbinen führte zu einem dreitägigen Blackout in weiten Teilen des Landes. Über 18 Gigawatt an Leistung vielen aus. Das entspricht etwa 12 Kernkraftwerksblöcken.
Das nahezu vollständige Versiegen der Grundwasserquellen in der spanischen Provinz Almeria führte bisher zu Ernteausfällen von 65 Prozent. Abseits der großen Öffentlichkeit ist auch im Süden Libyens das Jahrtausende alte Bewässerungs- und Kühlsystem der Oasenstadt Ghadames faktisch ausgetrocknet. Das ehemalige Weltkulturerbe mit seinen eindrucksvollen Lehmbauten hatte bereits unter dem politischen Chaos im Land und den daraufhin ausbleibenden Touristen gelitten und war 2024 von der UNESCO von der Welterbeliste gestrichen worden. Das frische Wasser aus der Oasenquelle floss durch ein raffiniertes System von Kanälen zwischen Häusern und Wegen und kühlte das Innere der Stadt auf ein angenehmes Klima herunter. Die Restaurierung der Lehmmauern ist ohne genügend Wasser nicht möglich. In Europa waren die Flüsse Loire und Po den vierten Sommer in Folge fast ausgetrocknet und beim Rhein sah es nicht viel besser aus. Im Kernkraftwerk Chinon wurden die vier verbliebenen Reaktorblöcke endgültig stillgelegt, weil eine ausreichende Kühlwasserversorgung aus der Loire in zu langen Zeiträumen nicht mehr zu bewerkstelligen war.
In den arktischen Regionen Sibiriens und Kanadas hat das Tauen des Permafrostbodens weiterhin viel Methan freigesetzt. Die Anzahl der daraus resultierenden Brände hat Rekordhöhen erreicht und die Krater in der Tundralandschaft (Permafrost-Thermokarst-Sinklöcher genannt) nehmen zu. Bei Kratern anderer Art, die seit 2014 in immer größerer Zahl auftreten, gehen Wissenschaftler davon aus, dass sie durch Methan- und Kohlendioxidgase entstehen, die in Schmutz- und Eishügeln eingeschlossen sind und explodieren – ein Phänomen, das mit der Erwärmung des Klimas immer häufiger auftritt. Diesen Sommer wuchs die Zahl der entdeckten Krater in Jakutien und auf der Jamal Halbinsel um weitere 13 mit einer Tiefe von bis zu 55 Metern. Die Eisschmelze in Grönland erreichte schon 2024 mit 340 Gigatonnen einen neuen Höchststand, der auch dieses Jahr sicher wieder gebrochen wird. Wissenschaftler haben eine Verlangsamung des Golfstroms festgestellt. Ob diese ausreicht, um die seit vielen Jahren erstmalige Vereisung einiger norwegischer Häfen im letzten Winter und den überraschend starken Rückgang beim Kabeljaufang vor den Lofoten zu erklären, ist unter Experten noch umstritten.
Renommierte Wissenschaftler forderten bereits 2023 eine Reform der Weltklimakonferenzen. Es brauche häufigere und kleinere Treffen als riesige aber träge Mammutsitzungen wie jetzt wieder in Manaus. Außerdem sollte der Fokus ausschließlich auf den wissenschaftlichen Erkenntnissen liegen und klar herausgestellt werden, welche Länder bei ihren Maßnahmen zur Bekämpfung der Klimakrise Fortschritte machten und welche bindende Vereinbarungen nur blockieren oder ignorieren. Das Bundesverfassungsgericht hatte 2021 mit seinem sogenannten Klimaurteil Aufsehen erregt. Zum ersten Mal hatte ein Gericht bestätigt, dass eine Regierung die Fürsorgepflicht für seine Bürger verletzt, wenn es zu wenig gegen den Klimawandel unternimmt. Das Urteil war wegweisend, weil es den Rechtsweg öffnete und mit ihm nun möglich war, Gesetze auf ihre Vereinbarkeit mit den Zielen des Klimaschutzes hin zu überprüfen. Mit der „Climate Litigation“ genannten Strategie wurden weltweit inzwischen über zweitausend Prozesse angestrengt.
Das Herausstehlen aus Verantwortung und moralischer Pflicht wird damit zwar schwerer, aber Lösungen leider nicht schneller umgesetzt. Die Ziele laufen der Menschheit davon. Es ist zu befürchten, dass das Anthropozän das kürzeste Erdzeitalter wird.
Rudolf Prott