25 Jahre Equilibrismus - Für eine Welt im Gleichgewicht
Auf einem Dampfer, der in die falsche Richtung fährt,
kann man nicht sehr weit in die richtige Richtung gehen.
Michael Ende
Nach der Zersplitterung der UdSSR und der deutschen Vereinigung galt es als endgültig bewiesen, dass der Kapitalismus das einzig funktionierende, weil erfolgreiche Wirtschafts- und Gesellschaftssystem sei. Stimmen, die davor warnten, dass der Kommunismus zwar tot sei, der Kapitalismus aber todkrank wäre und somit kein Grund zur Freude bestünde, wurden als unqualifiziert abgetan. Erst seitdem an den Finanzmärkten das Fieber in solch bedrohliche Höhen stieg, dass mehr und mehr das gesamte Geldsystem und mit ihm die Realwirtschaft zusammenzubrechen drohte, mit dramatischen Folgen für die Demokratie, darf laut über die Kehrseite unserer Wirtschaftsordnung nachgedacht werden.
Die Kritik am Kapitalismus gehört inzwischen zur Tagesordnung. Allerdings beschränkt sie sich auf die „Auswüchse“ und dementsprechend zielen die Forderungen auf eine „Zähmung des Raubtierkapitalismus“ und auf eine „Rückkehr zur sozialen Marktwirtschaft“. Letztere wird als die gute Form des Kapitalismus dargestellt; ihre Ingredienzien bestehen aus einer Mischung aus staatlichen Geboten und persönlicher moralgeprägter Selbstbeschränkung.
Die große Frage aber bleibt: warum ein Raubtier domestizieren wollen, dem Unbändigkeit und Expansionsdrang bis zur Selbstzerstörung im Blut liegen?
Denn trotz aller ideologischen Unterschiede haben sowohl Kapitalismus wie auch der Sozialismus/Kommunismus mehr Gemeinsamkeiten als Trennendes. Beide sind kannibalistische Systeme, die nur unter Zwang rücksichtsloser Ausbeutung und Vernichtung unserer endlichen, natürlichen und menschlichen Ressourcen überleben können – bis zum Kollaps.
Die treibende Kraft unserer Konsumgesellschaft ist die Innovation. Ob in der Mode, dem Design, der Autoindustrie oder der Architektur etc. – wenn nicht „alle fünf Minuten“ etwas Neues auf dem Tisch liegt, werden wir nicht glücklich. Auf einem Gebiet allerdings scheuen wir vor jedem Experiment zurück: unser Wirtschaftssystem ist tabu, wir erklären es sogar als alternativlos. Und das, obwohl wir wissen, dass es uns zur Zeit aus dem Ruder läuft. Die verheerenden Folgen des Gier-Systems sind inzwischen überall sichtbar. Im Unterbewusstsein spüren wir alle, dass es so nicht weitergehen kann.
Ob wir die immer noch wachsende Weltbevölkerung, das absehbare Ende der fossilen Energien und Ressourcen, das Klima, die abnehmende Artenvielfalt, die Zerstörung der natürlichen Lebensgrundlagen oder die sozialen und wirtschaftlichen Entwicklungen nehmen: in keinem Bereich ist eine Projektion der gegenwärtigen Verläufe in die nahe Zukunft möglich, ohne katastrophale Dimensionen zu erreichen.
Wo die Evolution sich in Maßeinheiten von Jahrmillionen und – wenn es schnell ging – Jahrtausenden bewegte, sich immer sehr vorsichtig vorantastend, drücken wir auf‘s Gas, bringen Veränderungen im Stundentakt. „Globale Beschleunigungskrise“ nannte der Astrophysiker Peter Kafka dieses Phänomen: wir haben keine Zeit zur Erfolgskontrolle, zum Testen der Auswirkungen eines Eingriffs. Alle Neuentwicklungen müssen möglichst schnell und global eingesetzt werden, um die Investitionen wieder herein zu holen. Treten zu gravierende Folgen auf, wird einfach erneut eingegriffen.
Wir hebeln die Welt aus ihren Angeln, obwohl wir nicht in der Lage sind, sie dann im Gleichgewicht zu halten; so wird sie auf uns niederstürzen und uns begraben. Doch da es viele waren, die an verschiedenen Stellen gehebelt haben, wird niemand sich verantwortlich fühlen, niemand wird zur Rechenschaft gezogen werden – aber alle werden die Folgen tragen.
So verfährt der angebliche homo oeconomicus mit seiner Umwelt: erst gibt er viel Geld aus, sie zu zerstören, dann erarbeitet ein Heer von Wissenschaftlern Studien, um die Fehler zu analysieren. Und schließlich investiert er Unsummen, um zu versuchen sie zu retten.
Solange sich der Mensch als über der Natur stehend und somit getrennt empfindet, solange trägt er mit seinen Aktivitäten zur Destabilisierung und zu Ungleichgewichtungen bei.
Zwar werden wir seit einigen Jahren langsam aus dem „Dornröschen-Schlaf“ geweckt und können endlich den dramatischen Ernst der Lage nicht mehr leugnen. Sogar die gesamte Globalisierung mitsamt ihrer unkontrollierten und negativen Entwicklung wird infrage gestellt. Leider ist viel Zeit verstrichen. Denn schon vor über 50 Jahren haben Mahner vor den gravierenden Auswirkungen der zerstörerischen Wirtschaftssysteme gewarnt (Waldbrände, Dürren, Flutkatastrophen, Stürme, Epidemien, Hungersnöte, Artensterben etc.).
Bewundernswerte Bewegungen Jugendlicher wie z.B. Fridays for Future haben durch ihren Protest Diskussionen entfacht und weltweit eine unglaubliche Dynamik ausgelöst. Zeitweise trieben sie immer mehr Politiker demokratischer Staaten vor sich her. Doch in Zeiten der Pandemie und neuer Krisenherde werden andere Prioritäten gesetzt, so dass die Dynamik immer mehr ins Leere läuft.
Nichtsdestotrotz muss dringend untersucht werden, ob die Lösungsansätze vom richtigen Fundament ausgehen. Solange wir nicht bereit sind, in allen Bereichen das Wirtschaftssystem infrage zu stellen, werden wir keine richtigen Lösungen finden können.
Grundsätzlich gilt die Frage: Möchte der Mensch denn zukünftig nur auf oder wieder mit der Erde leben?
Gibt es denn wirklich keine Alternative zum Kapitalismus als den Sozialismus / Kommunismus?
Eine Organisation mit Sitz in München wirbt für ein völlig neues Konzept. Das Besondere daran ist, dass es die Interdependenz der natürlichen Kreisläufe aufgreift und sich an den Naturregeln orientiert.
Das sozio-ökologische Wirtschaftskonzept des Equilibrismus
„Das Konzept des Equilibrismus strebt nach einem Ausgleich zwischen Ökologie, Ökonomie, Politik, Sozialem und Kulturellem. In einer Zeit, in der das ausschließlich ökonomische Denken um sich greift und die Wirtschaft auf globaler Ebene omnipotent wird, ist dieses Ziel dringlicher denn je.“ Mit diesen Worten unterstützte Sir Peter Ustinov kurz vor seinem Tode die Bestrebungen des Equilibrismus in seinem Geleitwort zum gleichnamigen Buch.
Der Equilibrismus bietet ein Konzept, dass sich übergreifend mit den wichtigsten Problembereichen beschäftigt und gleichzeitig eine lokale und globale Umsetzung anstrebt. Er ist eine der wenigen Organisationen, die versuchen, aus dem gegenwärtigen System auszubrechen.
Und so, wie alle Teile des Körpers gleich wichtig sind und nicht einer auf Kosten der anderen ungebremst wachsen darf, darf weder die ökonomische Betätigung des Menschen Vorrang vor seinen anderen Bedürfnissen erhalten, noch die Inanspruchnahme der natürlichen Ressourcen durch eine Spezies ständige Zuwachsraten aufweisen. Alles, was der Natur entnommen wird, muss ihr in kürzester Zeit auch wieder zurückgeführt werden, um im Kreislauf zu bleiben.
Der Equilibrismus möchte nicht an der Korrektur fehlerhafter Systeme arbeiten, sondern sie durch Rückbesinnung auf die jeweiligen Grundfragen völlig erneuern; insofern ist er konsequent, weil er an die Wurzeln geht. Gleichzeitig werden neue Rahmenbedingungen festgelegt. Als Maßstab gilt immer, dass sie sich im Einklang mit der Natur befinden.
Das Konzept ist biozentrisch und nicht anthropozentrisch angelegt. Denn nur so kann ein Wirtschaftssystem langfristig existieren.
Wenn der Mensch auch nach Ansicht des Equilibrismus nicht unbedingt die Krone der Schöpfung ist: seine momentane Rolle für den Weitergang des Lebens auf dieser Erde ist so entscheidend wie die Arbeit eines Restaurators für ein beschädigtes Kunstwerk. Nimmt er die richtigen Materialien und versteht seine Arbeit als Dienst am Original, wird es gerettet. Meint er hingegen, bessere Ideen als der Autor des Werkes mit selbst entwickelten Mitteln umsetzen zu müssen, wird auch der vorhandene Rest noch zerstört.
Wir Equilibristen meinen, dass das Werk der Evolution insgesamt sehr gut war und immer noch ist. Wir möchten unser Handeln darauf ausrichten, ihr möglichst wenig in ihr Handwerk zu pfuschen. Innerhalb der gemächlichen Fortentwicklung der Evolution gibt es für den Menschen immer noch genügend Handlungsspielräume für echten „Fortschritt“, in dem auch das Bestehende noch Platz hat.