Chiles verpasste Chance
Für viele war es nur eine Randnotiz in den Nachrichten. Chiles Bevölkerung lehnte am 4. September 2022 den Entwurf einer neuen Verfassung mit 63% der Stimmen deutlich ab.
Was war im langen Vorfeld geschehen?
1973 begann nach Pinochets Militärputsch ein Modellversuch à la Tahiti-Projekt, allerdings mit entgegengesetzten Vorzeichen. Die Versuchs“insel“ war eine durch die Militärdiktatur komplett isolierte Volkswirtschaft. Das erste große neoliberale Experiment nach den Theorien des amerikanischen Wirtschaftsprofessors Milton Friedman war geboren. Ein rigoroses Deregulierungs- und Privatisierungsprogramm, das in seiner brutalen Konsequenz über alles hinaus ging, was in den USA möglich wäre, führte zu einer Spaltung der Gesellschaft. Der bereits vorher existierende Begriff Neoliberalismus wurde im Laufe des Jahrhunderts zum Schimpfwort. Das sozioökonomische Ergebnis war ein Desaster, da es militärische Gewalt und politischen Terror zu seiner Durchsetzung brauchte. Das sogenannte Wunder von Chile, das Friedman ausgerufen hatte, war wie ein Kartenhaus zusammengebrochen. Das Bruttoinlandsprodukt fiel innerhalb von zwei Jahren von 18 Milliarden US-Dollar auf magere 7,9 Milliarden. Die Inflation, die 1973 bereits auf das Rekordhoch von 508 % geklettert war, stieg in den beiden folgenden Jahren weiter um jeweils mehr als 300 Prozent und die Arbeitslosenquote verfünffachte sich binnen dreier Jahre auf über 15 Prozent. Die öffentlichen Ausgaben wurden, vor allem durch die weitgehenden Privatisierungen des Schul-, Kranken- und Rentenversicherungssystems, stark gekürzt bis sie 1980 weniger als die Hälfte des Niveaus unter Allende ausmachten. Die Durchschnittslöhne der Arbeiter sanken von 1973 bis 1980 um 17 %.
Ein großer Teil der Einnahmen aus dem einzig nicht privatisierten Kupferexport landete direkt in Pinochets Militärhaushalt und in den Taschen der die Diktatur stützenden rechten Deregulierungsgewinner. Als weltgrößter Kupferproduzent konnte Chile zumindest den Staatsbankrott verhindern. Das Land leidet trotz inzwischen reduzierter Macht von Militär und Sicherheitsrat nach wie vor unter großer sozialer Ungleichheit. Als Pinochets Regentschaft 1990 endete, lebten 45 Prozent der Chilenen unter der Armutsgrenze, während die reichsten zehn Prozent ihr Vermögen fast hatten verdoppeln können.
2019 eskalierte bei Protesten in Santiago die Gewalt. Diese führten letztlich 2020 zu einem Volksentscheid, der mit fast 80% der Stimmen die Ausarbeitung einer neuen Verfassung befürwortete. „Chile war die Wiege des Neoliberalismus, es wird auch sein Grab sein“, versprach Präsident Boric.
Der eingesetzte Verfassungskonvent, ein Gremium aus jeweils 77 demokratisch gewählten Männern und Frauen, arbeitete binnen eines Jahres eine neue Verfassung aus. Die Forderungen derer, die auf die Straße gingen, wurden eingearbeitet.
Die wichtigsten Themen waren:
- der Zugang zu Trinkwasser als Gemeinschaftsgut
- der Umweltschutz
- ein soziales Gesundheitssystem mit gesetzlicher Krankenversicherung
- die expliziten Rechte für indigene Volksgruppen mit Selbstbestimmungsrecht in einem plurinationalen Staat
- das Recht auf Wohnraum
- der Zugang zu höherer Bildung
- ein staatliches Rentensystem
- ein Recht auf Abtreibung
- eine 50%ige Frauenquote bei Posten im öffentlichen Dienst
Auf 178 Seiten mit 388 Artikeln konnten die Konventsmitglieder alles unterbringen, was man sich von einer modernen Verfassung nur wünschen konnte: ein Traum für jeden engagierten Demokraten! Kritiker prognostizierten einen wirtschaftlichen Niedergang wegen dieser „linken Utopie“. Befürworter halten solche verantwortungsvollen Anforderungen angesichts von Klimawandel und sozialen Problemen für zwingend erforderlich.
Die konservative Oberschicht fürchtete um ihre Pfründe und startete eine Fake-News-Kampagne. So wurde z.B. aus den Plänen für einen sozialen Wohnungsbau die Drohung, es gäbe kein Recht auf ein eigenes Haus mehr. Arbeitnehmer wären nicht mehr Eigentümer ihrer Rentenersparnisse.
Die Kampagne war so massiv, dass die Hauptstrategie der Befürworter der neuen Verfassung darin bestand, den Originaltext zu verteilen und die einzelnen Artikel zu verbreiten. Der Verfassungsentwurf war mit fast 70.000 verkauften Exemplaren in einer Woche das erfolgreichste Sachbuch des Landes. Hoffnung und Ungewissheit hielten sich lange die Waage. Vor allem die Entprivatisierung bestimmter Sektoren weckt aber Ängste. Viele befürchten, dass Chile ein zweites Venezuela wird. Man habe viel zu verlieren und befürchtet, dass die neue Verfassung zu Instabilität und Unsicherheit führen und der Wirtschaft schaden könnte.
Die Ablehnung des Entwurfs war schließlich das Ergebnis der Angst vor der eigenen Courage. Es gilt nun den Weg zu finden zwischen neuen Protesten und einer nicht ganz so „revolutionären“ Version einer für den Ausgleich zwischen den Bevölkerungsschichten dringend notwendigen neuen Verfassung.
Autor: Rudolf Prott