Ist es radikal, nicht mehr zur Normalität zurückzukehren?
Weniger achtloser Konsum, mehr Zeit mit der Familie, mehr Solidarität und, ja, auch mehr Fahrradwege: Die Pandemie hat neben Angst und Verunsicherung auch Gutes entstehen lassen. Da stellt sich die Frage, in welcher Nach-Corona-Welt wir eigentlich leben möchten.
Für wenige Wochen im März und April wurde es in den Städten ruhiger. Viele Menschen blieben zuhause, statt ins Auto, den Bus oder die Bahn zu steigen. Der Fluglärm verstummte. Auf den abgesperrten Spielplätzen tobten keine Kinder. Niemand drängelte an der Kasse im Supermarkt. Wenn sie nicht mehr zur Arbeit fahren mussten, schliefen die Menschen länger als sonst und duschten, so zeigen es Daten von Stadtwerken in ganz Deutschland, eine bis zwei Stunden später. Und etwas Erstaunliches passierte: In den ersten Wochen, in denen sich für viele Menschen deren gewohnter Alltag veränderte, stieg das allgemeine Wohlbefinden, wie verschiedene Erhebungen zeigten. Die große Depression blieb aus.
Der Umgang der Menschen mit der Covid-19-Pandemie erzählt von Resilienz und vielen Widersprüchen. Es ist belastend, sich um kranke Menschen zu sorgen oder sie sogar zu verlieren. Jobverluste, Kurzarbeit, die Furcht vor einer Rezession. Beengende Wohnverhältnisse, die Überlastung durch die Gleichzeitigkeit von Kinderbetreuung, Homeschooling und Homeoffice. Fehlende Umarmungen, zu wenige Gespräche und kein Feierabendbier mit der besten Freundin. Erkennt dich der demente Vater noch, wenn du ihn wieder im Heim besuchen kannst? Der befürchtete Anstieg von Gewalt gegenüber Kindern und Frauen, die zu lange, zu nah mit den Menschen in Wohnungen sein mussten, die sie misshandeln würden, kam wie befürchtet. Die fehlende Tagesstruktur machte besonders Menschen mit psychischen Erkrankungen zu schaffen.
Und doch ging und geht es vielen sehr gut. Die Pandemie hat nicht nur Angst und Anpassung hinterlassen, sondern auch Hoffnung und Vorstellungsvermögen, Selbstvertrauen. Das Leben kann sich abrupt und grundlegend ändern, wir kommen weiter zurecht. Die Art von Veränderung, die groß war und nicht vorstellbar, bevor sie da war, funktionierte. Erst holprig, aber für viele Menschen machbar. Sie zeigte Dinge auf, die gut tun.
Die Pandemie öffnete Vorstellungsräume: Systemrelevante Berufe endlich besser bezahlen, dauerhaft flexibel im Homeoffice arbeiten, mehr Zeit mit der Familie, öfter selbst kochen, weniger achtloser Konsum, mehr Umweltschutz, mehr Fahrradwege! Doch die anfängliche Aufbruchsstimmung ist schon wieder verstummt. Erinnern Sie sich an diese Diskussionen? Sie werden kaum noch geführt. Das Streben nach der Normalität von vor Corona ist groß. Doch welche Normalität ist es eigentlich, die wiederhergestellt werden soll? Wäre jetzt nicht die ideale Zeit, um zu entscheiden, welche Dinge aus der Zeit vor der Pandemie wir zurückhaben wollen und welche nicht? Welche wollen wir vielleicht nur aus Gewohnheit zurück?
Die Pandemie hat in ganz unterschiedlichen Bereichen gezeigt, was nicht glücklich macht, und außerdem, welche gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Konstrukte zerbrechlich sind. Wollen wir etwas, das einer Krise nicht standgehalten hat, tatsächlich zurück? Es gibt kaum etwas, das vor der Pandemie über gesellschaftliches Unrecht noch nicht bekannt war. Es ist nicht neu, dass vielen Kindern die Ausstattung fehlt, um digital lernen zu können, oder dass ihr Zuhause für sie ein gefährlicher Ort ist. Es ist nicht neu, dass die Arbeitsbedingungen in Fleischfabriken menschenverachtend sind und Erntehelfer*innen ausgebeutet werden. Es ist nicht neu, dass in Altenheimen und Krankenhäusern zu wenige Pflegekräfte sich um zu viele Menschen kümmern und dafür zu wenig Geld und Wertschätzung bekommen. Es ist nicht neu, dass arme Menschen weniger gesund sind und früher sterben als reiche. Es ist nicht neu, dass marginalisierte Gruppen, zum Beispiel Menschen mit Behinderungen, bei politischen Maßnahmen nie als Erste mitgedacht werden, obwohl sie eine besonders verletzliche Gruppe sind.
In Krisen passiert es oft, dass Menschen, die in einer Gesellschaft benachteiligt werden, noch einmal stärkere Diskriminierung erfahren. Menschen widerstandsfähiger gegen plötzliche Krisen zu machen, heißt daher auch, soziale Ungleichheit zu reduzieren. Daher stellt sich eine viel größere Frage als die, wie man alle Bürger*innen gut durch die Pandemie bringt: Wie geht es danach weiter? Werden die Probleme, die die Corona-Krise verstärkt, aber eben auch neue Aufmerksamkeit auf sie gelenkt hat, endlich langfristig adressiert und politisch priorisiert? Das sollten Gesellschaft und Politik nun verhandeln und ausloten, die Diskussion darüber tatsächlich führen, statt sie abzuwürgen. Denn Politik sollte nicht auf Disruptionen warten, die es unumgänglich machen zu handeln, sondern sie sollte vorausschauen, Lösungen entwickeln, bevor Probleme akut werden.
Wer jetzt argumentiert, es sei die falsche Zeit, soziale Ungerechtigkeit zu thematisieren, da es vorrangig darum gehen müsse, die Wirtschaft wieder anzukurbeln, der erfasst die Herausforderung zu einseitig. Dem IWF-Ökonomen Jonathan Ostry zufolge haben Gesellschaften mit mehr Ungleichheit ein fragileres und langsameres Wirtschaftswachstum als solche, die es schaffen, Ungleichheit zu reduzieren. Mit dem Kinderbonus, der im Herbst in Höhe von 300 Euro pro Kind gezahlt werden soll und der als Maßnahme des Konjunkturpaketes der Bundesregierung gedacht ist, erreicht man vermutlich nicht einmal das Ziel, dass dieses Geld einen Konsum-Anreiz erzeugt. Denn in armen Familien liegen Rechnungen herum, die nicht bezahlt werden konnten, das Geld fehlte für die nötigsten Dinge, nicht für Shopping. 4,3 Milliarden Euro soll der Kinderbonus den Staat kosten und tut dabei nichts dafür, die Kinderarmut nachhaltig zu reduzieren, von der rund 2,8 Millionen Kinder in Deutschland betroffen sind.
Was auch immer die nächste Krise sein wird, wir werden besser darauf vorbereitet sein, wenn weniger Menschen in existenziellen Nöten leben, sobald die Krise beginnt. Wie bereiten wir uns darauf vor? Was braucht eine Welt, die besser mit abrupter Veränderung umgehen kann? Eine neue Normalität könnte sich im Kleinen an dem Gedanken entspinnen, was uns an unserem alten Alltag eigentlich gefiel und was nicht. Daher lohnt es sich, ganz genau wahrzunehmen, welche Veränderungen gut tun, welche nicht, welche sich auf Dauer etablieren ließen, welche Ideen noch nicht gelebt werden, obwohl sie sinnvoll wären.
Es könnte zudem eine interessante Frage an Politiker*innen sein, die im Herbst 2021 die neue Regierung bilden wollen oder sich um ein Bundestagsmandat bewerben. »Wollen Sie in die Zeit vor Corona zurück? Was davon wollen Sie nicht in die Zeit danach mitnehmen?«
Welche Wirtschaft wollen wir?
Arbeitsplätze können vermeintlich nur erhalten werden, wenn die Wirtschaft sich auf eine Zeitreise begibt: zurück in den Januar, Februar. Zurück zu einem Konsum, der, wie sich zeigt, so nicht notwendig ist und nur deshalb so stark war, da Menschen ständig Dinge kaufen, die sie nicht benötigen. Die T-Shirts und Unterhosen, die Lippenstifte und Duftkerzen, die während der Ladenschließungen nicht verkauft wurden, brauchte tatsächlich niemand. Viele Menschen haben sich den seltsamen Lebensstil angewöhnt, viel zu arbeiten, um viel zu konsumieren, und füllen nach Feierabend ihre Freizeit mit Konsum. Damit erhält die Art, wie wir freie Zeit verbringen, zwar Arbeitsplätze und kann neue schaffen, aber diese Gewohnheit schreibt den Kreislauf von übermäßiger Produktion und übermäßigem Konsum fort. Der Kreislauf betrügt uns um Zeit: Zeit, die Menschen dafür aufbringen, Überflüssiges herstellen, zu verkaufen, zu kaufen und schließlich wegzuwerfen oder auszusortieren. Ein Teil unserer Wirtschaft basiert auf der Selbsttäuschung, etwas Relevantes zu tun. »Bullshit-Jobs« nannte das der vor Kurzem verstorbene Anthropologe David Graeber.
Auch deswegen erlebten manche Menschen die vergangenen Wochen so widersprüchlich: Auf der einen Seite Angst um den Job und das Einkommen, auf der anderen Seite Erleichterung, davon pausieren zu können. Dann die Sehnsucht danach, nie wieder in diesem Job arbeiten zu müssen. In längeren Pausen vom Job stellen sich Menschen oft die Frage nach dem Sinn ihrer Erwerbsarbeit. Die Pandemie warf diese Frage noch einmal mehr auf, als plötzlich einige Berufe mit dem Label »systemrelevant« versehen wurden und eine ideelle Aufwertung erfuhren: Ohne diese Jobs funktioniert eine Gesellschaft nicht, einige Jobs können keinen einzigen Tag ruhen. Andere Jobs hingegen brauchte es weniger: Man kann tatsächlich zuhause bleiben, nicht erwerbsarbeiten, und die Welt dreht sich weiter.
Umso mehr ist in den Corona-Monaten aufgefallen, dass insbesondere die Jobs, die nicht Pause machen konnten, solche Berufe sind, in denen die Arbeitsbedingungen besonders schlecht sind und die Gehälter niedrig. Berufe, die kein hohes Ansehen genießen und für die Kinder kein anerkennendes Lächeln bekommen, wenn sie Altenpflegerin oder Lagerfachkraft als Traumjob nennen. Mit dem Schritt in die neue Normalität könnte unsere Gesellschaft das verändern. Sie könnte einen Markt kreieren, indem die unverzichtbaren Berufe tatsächlich so bezahlt werden und gestaltet sind, dass sich genügend Interessierte für diese Berufe finden, weil die Bedingungen stimmen. Wie wäre es mit einer neuen Normalität, in der kein Beruf mit Geringschätzung und Scham belegt ist, sondern alle mit Achtung? In der Arbeit so konzipiert ist, dass sie weder seelisch noch körperlich krank macht? Denn die Strategie, nicht nur für eine Pandemie, sondern auch für eine alternde Gesellschaft genügend Pfleger*innen zu haben, kann nicht sein, diese Fachkräfte im Ausland anzuwerben und die Arbeitsbedingungen in der Pflege so zu lassen, wie sie sind. Wir müssen das Klatschen übersetzen in etwas, das spürbar wird.
Und auch in anderen Berufen sollten wir weiter darüber sprechen, wie und wie viel Menschen arbeiten. Die Forderungen nach einem Recht auf Home-Office, aber auch nach einer »neuen Vollzeit«, die zum Beispiel eine Vier-Tage-Woche sein könnte, existieren seit Jahren – damit Erwerbsarbeit besser zu den unterschiedlichen Bedürfnissen von Menschen passt und ihnen die Arbeit erleichtert. Die Pandemie stärkte diese Ideen vor allem aus einer wirtschaftlichen Notwendigkeit heraus und nicht, weil Arbeitnehmer*innen davon profitieren. Wenn nun das Arbeiten von zuhause aus die neue Normalität werden soll, brauchen wir jetzt Konzepte, wie diese Arbeit von Anfang an so gestaltet werden kann, dass alle etwas davon haben und dass sie sich nicht nachteilig auswirkt auf bestimmte Gruppen. Wenn zum Beispiel Eltern und dabei insbesondere Mütter ins Home-Office gedrängt werden, um dort gleichzeitig Kinderbetreuung und Haushaltsarbeiten zu übernehmen, kann sich ihre fehlende Sichtbarkeit im Büro auf ihre Karrierechancen auswirken. Kleine und laute Wohnungen können das Arbeiten zuhause schwieriger machen – und wer stellt eigentlich die technische Ausstattung? Daher braucht die Arbeitswelt mit und nach Corona weitergehende Konzepte als das »Recht auf Homeoffice«, nämlich ausgewogene Konzepte für gute Arbeitsbedingungen, gute Zusammenarbeit und Chancengerechtigkeit für alle Mitarbeiter*innen, die ihre spezifischen Lebensbedingungen berücksichtigen. Dazu gehört ganz sicher der Abschied von der 40-Stunden-Woche, um Menschen mit Care-Aufgaben nicht vor die Wahl zu stellen, in permanentem Stress zu leben oder beruflich zurückstecken zu müssen.
Teresa Bücker, 36, ist Journalistin und befasst sich mit den Themen Arbeit, Feminismus und Diversität.
Den ganzen Artikel finden Sie unter folgendem Link:
Quelle: Süddeutsche Zeitung – SZ-Magazin vom 29. 9. 2020