Die gefährdete Nahrungskette im Arktischen Ozean
Was fällt uns ein, wenn wir das Stichwort Nahrungskette im Zusammenhang mit arktischen Gewässern hören? Da sind zunächst die Eisbären, deren Zukunft seit Jahren angeregt diskutiert wird. Auch die Wanderung vieler Walarten in die nährstoffreichen kalten Regionen ist den meisten ein Begriff.
Zum Verständnis der Auswirkungen des Klimawandels ist es für die Wissenschaft zunächst wichtig, die arktische Tierwelt und das Ökosystem zu verstehen.
Steigt man die Nahrungskette hinunter, dann kommt man über Robben und Wale zu den Fischen, Krebsen und Zooplankton 1), schließlich zu den Algen. Die auffälligste Gruppe der Mikroorganismen des Meereis-Ökosystems sind die einzelligen Eisalgen. Sie leben auch auf Schnee- und Eisflächen. Eine wesentlich wichtigere Rolle spielen sie aber unter Wasser, wo sie im Polarsommer einen grünbraunen Belag an der Unterseite von Treibeis und Eisbergen bilden. Sie wandeln durch Photosynthese gelösten anorganischen Kohlenstoff in organisches Material um (Primärproduktion genannt). Sie versorgen das gesamte Nahrungssystem mit Energie und sind einer der Hauptproduzenten im Arktischen Ozean.
Arktische Eisalgen sind wahre Anpassungskünstler. Sie benötigen kaum Licht für ihre Photosynthese. Viele kleine Organismen brauchen diese Algen als Nahrungsquelle. Kleine Krebse und Schnecken fressen die Eisalgen und werden wieder von größeren Tieren gefressen. Bestimmte Fettsäuren wandern in der Nahrungskette unverändert von einem Wesen zum anderen. Der Fettsäureansatz allein kann jedoch keine Informationen über den proportionalen Beitrag der von Eisalgen gegenüber den vom schwimmenden Phytoplankton 2) produzierten Fettsäuren liefern, da die selben Fettsäuren aus Meereis-Kieselalgen oder Kieselalgen in der Wassersäule stammen können. Durch die Kombination der Fettsäure-Biomarker-Analyse mit der stabilen Isotopenanalyse des organischen Kohlenstoffgehalts kann der relative Transfer an die Konsumenten der organischen Materie quantifiziert werden. Eisalgen reichern deutlich mehr C13 3) im Vergleich zu schwimmendem Phytoplankton an. Dieser Unterschied ermöglicht die Verfolgung von Kohlenstoff von Eisalgen zu höheren Stufen der Nahrungskette. Durch den Einsatz von Massenspektrometrie ist es möglich, die stabile Isotopenzusammensetzung einzelner Fettsäuren mit hoher Empfindlichkeit sowohl hinsichtlich deren Konzentration als auch der Isotopenzusammensetzung zu analysieren.
Die für Eisalgen typischen Fettsäuren und die Isotopensignatur verrieten Forschern vom Alfred Wegener Institut, ob acht beispielhaft untersuchte Tierarten über die Nahrung oder die Nahrungskette Kohlenstoff und damit einen großen Teil ihres Energiebedarfs aus Eisalgen aufgenommen haben. Eisnah lebende Tiere bezogen den Forschungsergebnissen zufolge zwischen 60 und 90 Prozent ihres Kohlenstoffs aus Eisalgen. In größeren Tiefen lebende Tiere wiesen immerhin noch Werte zwischen 20 und 50 Prozent auf. Eisalgen sind vor allem für Zooplankton eine wichtige Futterquelle, da sie einen hohen Gehalt an diesen Fettsäuren aufweisen, insbesondere mehrfach ungesättigte und andere essentiellen Fettsäuren. Davon profitieren wiederum die höheren Ebenen der Nahrungskette.
Das sommerliche Meereis in der Arktis schmilzt immer schneller und mit ihm der Lebensraum für die Eisalgen. Das könnte zu Veränderungen in der Fortpflanzung und Wachstumszyklen einiger arktischer Zooplanktons führen, wie etwa bei Ruderfußkrebsen, die ihre Lebenszyklen an die Nahrungsverfügbarkeit zwischen eisassoziierten und im Freiwasser schwimmenden Algenblüten anpassen. Folglich können diese Veränderungen auch die unteren Ebenen der Nahrungskette im Freiwasser und am Boden betreffen. Bisher wurde der Beitrag der Eisalgen-Biomasse zu höheren ernährungsrelevanten Niveaus im Vergleich zu Phytoplankton im Freiwasser kaum untersucht. Die wenigen verfügbaren Studien konzentrierten sich auf Ökosysteme im Zusammenhang mit Treibeisplatten.
Das ganze Szenario lässt sich bisher (noch) nicht auf die Antarktis übertragen. Das liegt daran, dass durch den mächtigen Kontinent und die kalten Fallwinde, die er produziert, der Einfluss durch die Atmosphäre noch nicht entscheidend am nahezu konstanten Meereis nagt. Das wärmere Wasser von unten kann das aber bald ändern.
Der Rückgang des Eises wird zumindest arktische Meeresbewohner wie Fische, Robben und als Spitze der Nahrungskette auch den Eisbären viel tiefgreifender treffen als bisher vermutet, befürchtet Doreen Kohlbach vom Alfred Wegener Institut in ihrem Forschungsbericht.
- tierische Organismen, die im Wasser frei schwebend leben und sich von anderen Organismen ernähren. Ruderfußkrebse stellen in den oberen Wasserschichten der Meere bis zu 90 % des Zooplanktons dar. Diese Organismen dienen als Zwischenspezies in der Nahrungskette und übertragen Energie von planktonischen Algen (Primärproduzenten) auf die größeren wirbellosen Raubtiere und Fische, die sich wiederum von ihnen ernähren.
- einzellige Pflanzen, die in den Oberflächengewässern der Ozeane leben. Das Phytoplankton besteht aus frei im Wasser schwebenden, meist nur unter dem Mikroskop erkennbaren Algen verschiedener Algenklassen.
- C13 ist das Kohlenstoffatom mit 13 Kernbausteinen (6 Protonen und 7 Neutronen) gegenüber dem weit häufigeren (98,94%) C12 Atom mit 6 Neutronen. Beide Isotope sind gegenüber dem für die Altersbestimmung organischer Materialien gemessenen radioaktiven Isotop C14 (mit 8 Neutronen) stabil.
Plankton ist der Überbegriff für Kleinstlebewesen im freien Wasser. Eisalgen werden also nicht dazu gezählt.
Autor: Rudolf Prott
Quellen:
Meereisportal des Alfred-Wegener-Instituts, Helmholtz-Zentrums für Polar- und Meeresforschung
https://www.meereisportal.de/glossar/Eisalgen
Ausführliche Beschreibung zum Thema Eisalgen
https://en-m-wikipedia-org.translate.goog/wiki/Ice_algae?_x_tr_sl=en&_x_tr_tl=de&_x_tr_hl=de&_x_tr_pto=rq
Publikation des Bundesministeriums für Bildung und Forschung
https://www.wissenschaftsjahr.de/2016-17/aktuelles/alle-aktuellen-meldungen/juli-2016/eisalgen-grundnahrungsmittel-im-ewigen-eis-bedroht.html
Der originale Forschungsbericht
https://aslopubs.onlinelibrary.wiley.com/doi/full/10.1002/lno.10351
Podcast mit Dr. Stefanie Arndt – Forschung im antarktischen Meer
https://boettcher.science/podcast