Tabus versus Tabula Rasa
Ich glaube es war der unverwüstliche, schätzenswerte Erhard Eppler (SPD), der einmal gesagt hat, dass die Naturvölker vermutlich keinen wesentlich anderen Umgang mit der Natur gepflegt haben als wir, sie hatten nur keine Motorsägen. Als Lacher kommt das gut, das Zitat vermittelt sogar einen kurzen Moment das Gefühl, als sei vielleicht mehr als ein Körnchen Wahrheit daran.
Müßig darüber nachzudenken. Ob die Motorsäge auch unter Völkern eingeschlagen hätte, die als Gemeinwesen funktioniert haben, in denen die Frauen geachtet und die Kinder in jedem Fall geliebt wurden, wage ich zu bezweifeln. Das Körnchen Wahrheit aber will ich gar nicht infrage stellen. Als die Maori Neuseeland besiedelten, haben sie die tierischen und pflanzlichen Ressourcen derart unachtsam geplündert, dass ihr Lebensraum kaum noch etwas hergab. An dem Punkt sind wir auch bald. Aber während unser Giersystem immer noch einen draufsetzt, die Katastrophe also bewusst in Kauf nimmt und die Menschen darüber belügt und betrügt, kamen die Maori zur Besinnung. Notgedrungen, denn ihr Land gab so wenig her, dass es bereits Fälle von Kannibalismus gab. Also erklärten sie die am stärksten geschädigten Gebiete zu Tabuzonen, in denen nicht gejagt, gefischt oder Holz geschlagen werden durfte. Manche Zonen waren für Menschen ganz gesperrt. Erst wenn die Natur in ihnen wieder auferstanden war, wurde das Tabu gelöst. Jetzt galt es für jene Regionen, die das Volk bisher ernährt hatten und die auch ihre Atempausen brauchten. Auf diese Weise entstand ein gesunder Kreislauf – Mensch nimmt und Mensch lässt in Ruhe. Die Natur weiß zu schätzen, wenn das Scheinwerferlicht unserer Aufmerksamkeit gelegentlich über sie hinweg streicht. Dann produziert sie dauerhaft genug für alle.
Im „Tahiti-Projekt“ wie auch in den anderen Büchern der Maeve Trilogie kommt dem Tabu wieder seine ursprünglich Bedeutung zu. So werden in den URP-Regionen ebenfalls weite Landstriche zu Taubzonen erklärt, damit sich die Natur dort nach ihren eigenen Regeln regenerieren kann. Wobei uns auch die Maori als Vorbild dienten. Die Maori haben das gut gelöst, finde ich. Mit einem Gefühl der Ehrfurcht der Natur gegenüber, mit einem religiösen Gefühl, mit Spiritualität hatte das womöglich gar nichts zu tun, wie die Träumer unter den Zivilisierten ja gerne vermuten, wenn von den Naturvölkern die Rede ist. Und trotzdem verbindet ein der Logik folgendes nachhaltiges Wirtschaftssystem die Menschen unbewusst mit einer anderen Realität. Der Zustand unserer Umwelt hat Einfluss auf unser Denken und auf unsere körperliche Verfassung, wer wollte das leugnen. Das nennt man Bioresonanz. Für einige Naturvölker ist die Bioresonanz der Indikator ihres Bewusstseins. Die Bioresonanz erkennt das aufeinander Eingehen und die gegenseitige Verantwortung von Individuum und Umwelt. Die Tsalagi sagen, dass jeder Mensch eine Gabe hat, und die besteht in der Beziehung zur Umwelt. Diese Beziehung dreht sich nicht um Landschafts- oder Wasserschutz, sie wirkt in deiner unmittelbaren Nachbarschaft, sie wirkt auf deine Familie und Freunde und die wiederum haben ebenfalls Familien und Freunde – wenn unsere Eliten könnten, würden sie der Bioresonanz das Handwerk legen. Die Tsalagi sagen also, dass die Resonanz ihrer geistigen Stabilität einen wesentlichen Einfluss auf ihre Mitmenschen und die Natur ausübt. Deshalb betrachten sie sich als spirituell verpflichtet, sie betrachten es als ihre Pflicht, ihre Herzen und ihren Geist zum Wohle aller Wesen klar zu halten.
Gegenseitigkeit ist eine jener wichtige Prinzipien, die wir erst wieder lernen müssen zu verstehen. Wenn wir geben, empfangen wir, so einfach ist das. Die Cherokee-Schamamin Dhyani Ywahoo sagt: „Wenn wir den Zyklus der Gegenseitigkeit begreifen, werden wir fähig, uns von der Anbindung an die bestehenden Verhältnisse zu lösen. Wenn wir zurückfinden zu gemeinsamen Ritualen ist schon viel gewonnen. Rituale bauen stärker auf als Worte. Sie sind das Geflecht, das die Seile der Brücke bildet, die dich ans Ufer der Weisheit bringt, jenseits des Meeres deiner Ignoranz.“
Hunderttausende, ja Millionen und Abermillionen Menschen wissen inzwischen und sagen es auch, dass wir keine Verantwortung mehr für die Erde übernehmen, dass sie leidet. Aber wir meinen damit die da oben, die anderen, es sind immer die anderen, die Schuld haben. So geht das nicht. Schuldzuweisungen gehen nicht, auch wenn die Verbrechen deutlich zugeordnet werden können. Das Problem entsteht im Geist von uns allen und dort wird es gelöst. Im Geist nämlich sind wir mit allem verwandt. Ist das wirklich so schwer zu verstehen? Offensichtlich schon. Denn wir alle sind es, die Kritiker eingeschlossen, die täglich am Rad der Vernichtung drehen. Ohne unsere Unterstützung (wieviele Menschen ändern schon ihr Konsumverhalten?) könnten derart katastrophale Verhältnisse, wie wir sie in aller Kürze zu konfrontieren haben, nicht entstehen.
So werden die Dinge aller Voraussicht nach ihren schrecklichen Lauf nehmen. Denn Weisheit entsteht unter Verschluss. In der Auster unseres Bewusstseins. Als Irritation. Das kann einen ganz schön nervös machen. In diesem nervösen Zustand befinden wir uns gerade. Wann endlich begreifen wir, dass diese Irritation sehr bald von faszinierenden Schichten kristalliner Strukturen umhüllt wird? Dass wir dieses Kleinod in die Hand nehmen, uns damit schmücken können. Das eine andere Welt, eine andere Gesellschaft möglich ist, wenn wir es nur wirklich wollen. Das der Drops gelutscht ist, habe ich an anderer Stelle mehrfach deutlich betont, das muss in diesem doch sehr positiv ausgerichtetem Artikel ja nicht auch noch gesagt werden …
„Wenn ihr nicht ein bisschen von der alten Wärme ins Leben zurückholt, erwartet euch ein schreckliches Verderben“.
D. H. LAWRENCE (1885 – 1930), britischer Schriftsteller
„Es gehört zum Schwierigsten, was einem denkenden Menschen auferlegt werden kann, wissend unter Unwissenden den Ablauf eines historischen Prozesses miterleben zu müssen, dessen unausweichlichen Ausgang er längst mit Deutlichkeit kennt. Die Zeit des Irrtums der anderen, der falschen Hoffnungen, der blind begangenen Fehler wird dann sehr lang“.
CARL J. BURCKHARDT (1891 – 1974), Schweizer Diplomat, Essayist und Historiker