Guedelon Exkursion in eine andere Zeit
Auf einer Recherchereise für den dritten Equilibrismus-Roman haben Autor Dirk C. Fleck und Vereinsvorstand Eric Bihl den außergewöhnlichen Burgbau Guédelon in Frankreich besucht. Was steckt hinter dem 1997 begonnenen Projekt und was können wir daraus lernen?
Etwa 200 Kilometer südlich vom Pariser Stadtzentrum entfernt steckt ein Pfahl im Fleisch unserer überdrehten Zivilisation. Vielleicht ist das Gleichnis schlecht gewählt, vielleicht sollte man besser sagen, dass im Herzen Frankreichs unserer überhitzten Zeit ein Projekt in die Speichen geworfen wurde, welches seit siebzehn Jahren so bedächtig aufblüht, dass es inzwischen die ganze Nation in Atem hält.
Wachstum, ja – aber sehr bedächtig!
Dabei ist Guédelon nichts weiter als ein simples Bauprojekt. Die Betonung liegt auf simpel. Denn in den Wäldern nahe des Örtchens Saint-Sauveur-en-Puisaye wird nach den Plänen und mit den Techniken und Methoden des 13. Jahrhunderts eine klassische Burg gebaut, mit vier Ecktürmen und einer umlaufenden Festungsmauer. Die Fertigstellung ist für das Jahr 2023 angepeilt.
Das wäre dann eine Gesamtbauzeit von 26 Jahren. Wenn man bedenkt, dass im Wettrennen um das jeweils höchste Gebäude der Welt, ob nun in Dubai, Singapur, Kuala Lumpur, Moskau oder sonstwo, für die Errichtung der aberwitzigen Glas- und Betonfinger kaum mehr als sechs Monate benötigt werden, kann man hier mit Fug und Recht von einem bedächtigen Wachstum sprechen.
Und genau darin liegt die Faszination des Projekts. Fast 400.000 Besucher schauen sich das stille Spektakel jährlich an, Tendenz steigend. Der gigantische Parkplatz vor der Baustelle, die eigentlich eine im Wald verstreute „Werk-Stadt“ ist, wurde mit den Jahren immer wieder erweitert. Er sieht inzwischen aus wie ein Parkplatz vor einem Bundesliga-Stadion, mit einem Extrabereich für Reisebusse. Die zahlreichen Kassenhäuschen, an denen sich bei schönem Wetter oder am Wochenende lange Schlangen bilden, lassen ebenfalls erahnen, wie sehr sich die Menschen nach dieser kleinen Zeitreise sehnen.
Denn Guédelon erinnert in aller Bescheidenheit daran, was uns an Lebensqualität abhanden gekommen ist, seit wir nur noch als Konsumsklaven in einem System funktionieren, das dem Geschwindigkeitsrauch des schnellen Geldes verfallen ist und dabei im Begriff ist, die gesamte Schöpfung aus den Angeln zu heben. Wer allerdings mit falschen Vorstellungen hierher kommt, wer in Guédelon eine Art Freilichtmuseum oder gar ein mittelalterliches Disneyland erwartet, wird enttäuscht werden. In Guédelon arbeiten fünfzig Menschen aus zwölf Berufsgruppen einander zu. Sie sind ein eingespieltes, autarkes Ensemble, das man zwar besichtigen kann, das sich aber nicht zur Schau stellt.
Nachhaltig bauen: mit Material aus der Region
Der Wald, in dem diese „Werk-Stadt“ entstanden ist, gibt alles her, was für den Bau der Burg, was auch für die Werkstätten selbst an Materialien benötigt wird. Die heranwachsende Burg befindet sich in einem aufgelassenen Steinbruch, in dem zunächst die Steinbrecher und dann die Steinhauer tätig werden, welche schließlich die Maurer beliefern. All diese Leute arbeiten mit zeittypischen Werkzeugen, es werden weder Zement noch Schrauben verwendet, stattdessen wird der Mörtel aus Sand, Tonerde und gelöschtem Kalk gewonnen. Hilfsmittel wie Tretkräne, Gerüste und Beschalungen werden auf der Baustelle selbst hergestellt.
Da versteht es sich von selbst, dass Guédelons Handwerkerinnen und Handwerker in mittelalterliche Gewänder gekleidet sind und der Transport der Materialien mit großrädrigen Pferdekarren bewerkstelligt wird. Um die Baustelle herum ist eine ganze Siedlung von Zulieferern entstanden. Sie sind für den Nachschub an Dachschindeln, Körben, Töpferwaren, Fliesen, Nägeln, Seilen, Balken und Kleidung verantwortlich. Außerdem werden rund um die Burg Tiere gehalten – Pferde, Schafe, Schweine, Gänse, Hühner und Enten, was dem aus der Zeit gefallenem Ort in Kombination mit den Gerüchen, die sich aus den Werkstätten in die Waldluft verflüchtigen, eine unverwechselbare Duftnote verleiht.
Guédelons Macher: ein Fensteröffner
Der Initiator von Guédelon ist Michel Guyot, ein 66-jähriger französischer Schlossherr, der sich diesem experimentellen Archäologieprojekt mit Haut und Haaren verschrieben hat. Guyot ist ein Fensteröffner. Mit Guédelon ist es ihm gelungen, ein wenig würzige Zugluft in die vollklimatisierten Lebensräume unserer Zivilisation zu leiten, in der unsere Fantasie zu ersticken droht, weil wir keine Verbindung mehr zur Natur herzustellen vermögen, zu ihrer Art von Wachstum, mit dem sich die Menschen Jahrtausende lang arrangiert hatten.
Wie stark die Sehnsucht nach einem natürlicheren, nicht ganz so fremdbestimmten iPod-Leben in uns schlummert, beweisen die ständig steigenden Besucherzahlen von Guédelon. Auf der kleinen, aber überzeugenden Zeitreise, die Michel Guyot uns anbietet, bekommen wir eine Vorstellung davon, was an Lebensqualität alles generiert werden kann, wenn das aberwitzige Tempo unserer Leistungsgesellschaft gebrochen wird und Entschleunigung einsetzt. Nicht umsonst lässt der Burgherr immer wieder verlauten, dass bei diesem Projekt nicht die Burg als solche im Vordergrund steht, sondern ihre Errichtung. Oder um es mit Konfuzius zu sagen: „Der Weg ist das Ziel.“
Ich bin nicht sicher, ob Michel Guyot die 1978 verstorbene US-amerikanische Ethnologin Margaret Mead kennt, jedenfalls handelt er in ihrem Sinne und nach ihrer Prämisse, die da heißt: „Zweifle nie daran, dass eine kleine Gruppe engagierter Menschen die Welt verändern kann – tatsächlich ist dies die einzige Art und Weise, in der die Welt jemals verändert wurde.“
Modellprojekt für die Zukunft
Auch der Equilibrismus plant ein » Modellprojekt. Anders als in Guédelon soll dort nicht die Vergangenheit, sondern die mögliche Zukunft erlebbar und vor allem begreifbar werden: durch die Kombination traditioneller und moderner nachhaltiger Lösungen, die bereits jetzt vereinzelt existieren.
PS: Die Baustelle Guédelon ist von November bis März geschlossen. Alles weitere wie Anfahrt, Ticketbuchungen, Unterkunft etc. erfahren Sie auf der » Internetseite zum Burgbau.