RISIKO! Von der Traurigkeit eines jungen alten Mannes
„Man braucht sehr lange, um jung zu werden“. Recht hat er, der gute Pablo Picasso. Man braucht übrigens auch lange, um diese Worte zu verstehen. Dazu muss man zurück gefunden haben zu ungetrübter Unschuld, zum atemlosen Staunen und zum bedingungslosen Vertrauen in alles, worin das Leben uns verwickelt. Es ist dieses Urvertrauen, das uns in der Matrix einer menschengemachten Realität verloren gegangen ist und das wir uns mühsam zurück erobern müssen. Dabei kann man schon siebzig, achtzig oder neunzig Jahre alt werden. Ich bin gerade siebenundsiebzig geworden und fühle mich jünger denn je.
Soweit die Vorrede. Die üble Nachrede kursiert zwar erst seit wenigen Wochen, trifft mich aber mitten ins Herz. Man hat mich zur Risikoperson erklärt. Einfach so und völlig widerspruchslos. Ich bin nicht nur hoch in den Siebzigern angesiedelt, was schon schlimm genug ist, ich habe außerdem noch Diabetes II, was dem Corona-Virus Tür und Tor öffnen soll. Dabei ist Diabetes II durch gute Ernährung quasi außer Gefecht zu setzen. In panischen Zeiten wie dieser ist das natürlich kein Argument. Also fassen wir zusammen: Dirk C. Fleck = RISIKO! Normalerweise könnte ich darüber lachen, wenn mir nicht nach und nach bewusst würde, wie sehr die Angst von uns inzwischen Besitz ergriffen hat. Das reicht bis in mein unmittelbares Umfeld. Gestern versuchte mir eine Freundin aus Baden-Württemberg verlegen zu erklären, warum mein längst geplanter Besuch bei ihr wohl besser nicht stattfinden sollte (RISIKO!). Ich bekomme Anrufe von Menschen, die ich ewig nicht gesehen habe und die wissen wollen, ob es mir gut geht. „Ja, warum fragst Du?“ (Dummerchen: RISIKO!).
Inzwischen habe ich begriffen, welchen Stellenwert ich noch besitze: den eines Mannes, der sich zwar jünger fühlt als jemals zuvor, der jedoch aufgrund seines Alters auf Distanz gehalten wird. Ich verstehe das. Aber wenn selbst die Freunde auf Abstand gehen, wenn es nicht mehr möglich ist, jemanden auf ein Glas Wein einzuladen, ohne ihn in Verlegenheit zu bringen, stimmt mich das traurig. Und diese Grundstimmung hüllt mich ein, die kann auch der schüchterne Frühling nicht vertreiben. Wie wird man in Zukunft mit mir verfahren? Schmeißt man mich aus Bussen und Bahnen? Weisen mich die Krankenhäuser ab, wenn ich Hilfe brauche? Wird mir ein Kontingent an Stunden zugeteilt, die ich an der frischen Luft verbringen darf? Muss ich eine deutlich sichtbare Kennung auf der Kleidung tragen? Denkbar ist inzwischen alles.
Was ist nur los mit uns? Blicken wir uns einmal in der Geschichte um. Was sehen wir? Wir sehen Milliarden von Toten. Von Urbeginn an starben Menschen, Tiere und Pflanzen dahin wie Schaumkronen auf dem Meer. Jede Person, auf die ich mich berufen kann, ist tot. Wir leben aus dem Nachlass Verstorbener und erleben uns inmitten von Todeskandidaten. Was machen wir also für ein Aufhebens um uns? Wäre es nicht besser, dem Virus, das weltweit weniger Tote fordert als jede Grippewelle, mit mehr Gelassenheit zu begegnen, anstatt in Angststarre zu verharren und uns auf diese Weise des Lebens zu berauben?
Ich habe es inzwischen aufgegeben, irgendwelche Nachrichten oder Meinungen zum Thema zu konsumieren. Es ist pures Gift, was uns pausenlos und von allen Seiten in die Köpfe geträufelt wird. Das gilt nicht nur für den Mainstream, sondern ebenso für die sogenannten alternativen Medien. Dagegen gilt es dringend Abwehrkräfte zu entwickeln. Das ist nicht leicht, denn sobald man unter Menschen gerät, klebt man am Fliegenfänger ihrer Angst. Sie sieht nicht nur komisch aus, diese Angst, sie ist auch im höchsten Grade irritierend. Hier wird nun überdeutlich, dass unsere Spezies mit dem Phänomen der Vergänglichkeit in keinster Weise zurechtkommt.