Wir müssen aus dem fehlerhaften System aussteigen
Im Rahmen des 24. Festes der Kulturinitiative am 15. April auf Burg Ludwigstein bei Witzenhausen gab Eric Bihl, Vorsitzender des Equilibrismus e. V., Einblicke in das Konzept: Eine moderne Gesellschaft im Einklang mit der Natur ist möglich, wenn wir bereit sind Neues zu wagen.
„Im Fluss treibt ein Baby und kämpft gegen das Ertrinken an. Sie springen ins Wasser und retten es. Wieder an Land bemerken Sie weitere Babys im Fluss. Wann hören Sie auf, die Kinder einzeln zu retten und sehen stattdessen weiter flussaufwärts nach, wer sie ins Wasser schmeißt?“ Mit diesen an Marshall Rosenbergs „Baby-Dilemma“ angelehnten Worten eröffnete Eric Bihl, erster Vorsitzender des Equilibrismus e. V., seinen Vortrag. Mit diesem Beispiel verdeutlichte er, dass der Verein nicht wie vielerorts allgemein üblich von Thema zu Thema springt und sich um Teillösungen kümmert, sondern bei den Ursachen ansetzt.
Bevor jedoch die einzelnen sozial-ökologischen Ansätze des Equilibrismus vorgestellt wurden, skizzierte Bihl den heutigen kritischen Stand in finanzieller und wirtschaftlicher, politischer und sozialer, aber auch in ökologischer und technologischer Sicht. Dabei ging es zunächst um die Überbevölkerung auf der Erde, die immer weiter zunimmt. 2050 werde eine Population von 9,1 Milliarden Menschen erwartet: eine Verdreifachung in nur 70 Jahren. Einher ginge ein doppelter Energieverbrauch, bei jetzt schon knappen Ressourcen. Uns erwarten nach diesen Prognosen Herausforderungen auf vielen Ebenen.
Als Ursache sieht Bihl die industrielle Revolution und ihre bekannten Folgen. Tier- und Naturschutz gehen ihm noch nicht weit genug. „Meist stehen die Symptome im Fokus und nicht die Ursachen, die häufig systemisch bedingt sind.“ Als eine der Ursachen sehen die Equilibristen das jetzige Wirtschaftssystem, welches beispielsweise ein unendliches Wachstum bei gleichzeitig begrenzten Ressourcen benötigt.
Bihls Ansicht nach gibt es jetzt drei Möglichkeiten zu handeln: Die fatalste Variante sei nichts zu verändern, während das geringere Übel ein Herauszögern mit kleinen Reformen und Korrekturen wäre. Ziel der Equilibristen ist dagegen, sich auf die Veränderung vorzubereiten und einen neuen Weg einzuschlagen. Kurz nach dem 100. Jahrestag des Untergangs der Titanic vergleicht er unsere jetzige Situation mit dem Riesenschiff, das mit einem Eisberg kollidierte und nicht genügend Rettungsboote an Bord hatte. Eben diese Rettungsboote will der Equilibrismus in Form der sozial-ökologischen Alternativen bereit stellen. Schließlich stehe schon heute fest, dass wir nicht mehr so weitermachen können wie bisher.
Ein vollständiger Paradigmenwechsel ist laut Bihl notwendig, wie ihn auf sportlicher Ebene der Athlet Dick Fosbury bei den olympischen Spielen 1968 in Mexiko beim Hochsprung einläutete: Statt wie bis dato üblich bäuchlings über die Latte zu springen, überwand Fosbury sie in Rückenlage. Seine Technik ist heute Standard. Das größte Hindernis für einen Paradigmenwechsel ist für den Vorsitzenden des Equilibrismus e. V. die weit verbreitete Angst der Menschen vor Veränderungen.
Dass diese jedoch vielfach unbegründet ist, zeige Dirk C. Fleck im Öko-Thriller » „Das Tahiti-Projekt“, der 2009 mit dem Deutschen Science Fiction Preis ausgezeichnet wurde. Im Jahr 2022 ist Tahiti die vollständige ökologische Wende in Form eines praktizierten Equilibrismus geglückt. Alle im Roman beschrieben Technologien und Konzepte für ein modernes Leben im Einklang mit der Natur existieren bereits heute. Sie werden nur nicht flächendeckend angewendet. Daher soll es nicht bei der Fiktion bleiben, sondern ein Modellprojekt als ökologisches Schaufenster entstehen.
Hierzu gab Bihl Einblicke in die momentane Umsetzung des Equilibrismus. 2009 sei nach ausgiebiger Planung die Nutzung einer Fläche auf Tahitis Nachbarinsel Moorea gescheitert, wo das Konzept praktisch angewendet werden sollte. Eine Hotelkette sei den Eigentümern lukrativer erschienen. Deswegen suche der Verein derzeit noch nach einer neuen Insel, auf der das Modellprojekt gestartet werden kann. Auf Rapa sind die » Vorbereitungen bisher am weitesten gediehen. Aber auch der unabhängige Inselstaat Niue, Island oder private Inseln kommen für die Equilibristen in Betracht.
„Wir müssen weg von einer globalen Monopolisierung hin zu einer globalen Bioregionalisierung“, erklärte Bihl zum Abschluss. Die vielen vorhandenen einzelnen Alternativen zeigen schließlich, dass wir jederzeit aus dem fehlerhaften System aussteigen können.