Curitiba: Ökostadt seit 1972 – Hamburg: Schwindel
Hamburg darf sich dieses Jahr als Umwelthauptstadt Europas bezeichnen. Ein unverschämter Etikettenschwindel, der einmal mehr beweist, wie fahrlässig und vordergründig mit dem Begriff Umwelt umgegangen wird. Von ökologischer Ausrichtung kann in der Elbmetropole nämlich nicht die Rede sein.
Titel dieser Art werden in Europa als Placebos vergeben, mehr steckt nicht dahinter. Dabei könnte der konsequente Umbau zur Eco-City dieser Stadt eine weltweite Aufmerksamkeit bescheren, die sich auch wirtschaftlich lohnen würde. Warum dies angesichts der Probleme, die unsere Metropolen zu konfrontieren haben, nicht geschieht, bleibt ein Rätsel, zumal sich doch jede Kommune im weltweiten Wettbewerb um sogenannte Standortvorteile zu profilieren versucht. Die astreine Ökostadt wäre so ein Standortvorteil, der nicht nur das Image, sondern auch die Kassen auffüllen könnte, wie das Beispiel Curitiba beweist.
Die Millionenstadt Curitiba im Südosten Brasiliens ist etwa so groß wie Hamburg. 42% der Bevölkerung sind unter 18 Jahre alt. Bis zum Jahr 2020 rechnet man damit, dass die Stadt um eine Millionen Menschen wachsen wird. Die meisten Städte in den Entwicklungsländern haben riesige Probleme: Armut, Arbeitslosigkeit, Analphabetentum, Verkehrschaos, Umweltzerstörung, Kriminalität und Korruption. Curitiba aber hat diese Probleme in den Griff gekriegt, die Stadt gilt als erste Eco-City der Welt. Eine verantwortungsvolle Politik und ein verantwortungsvolles Unternehmertum haben das möglich gemacht. „Die Stadt ist aufgeblüht, weil sie ihre Bürger und vor allem auch ihre Kinder nicht als Last, sondern als wertvolle Ressource, als Erbauer der Zukunft behandelt hat“, heißt es in dem Buch „Öko-Kapitalismus“ von Paul Hawken, Amory und Hunter Lovins.
Die Erneuerung Curitibas begann an einem Freitagabend im Jahr 1972, um achtzehn Uhr, eine Stunde nachdem die Gerichte geschlossen hatten. „Städtische Arbeiter begannen, mit Preßlufthämmern den Bürgersteig des historischen Boulevards, der Rua Quinze de Novembro, im Stadtzentrum aufzureißen“, heißt es bei Hawkins, Amory und Hunter Lovins weiter, „rund um die Uhr verlegten sie Pflastersteine, installierten Straßenlaternen und Kioske und pflanzten Zehntausende von Blumen. 48 Stunden später war die minutiös geplante Aktion vollendet. Brasiliens erste Fußgängerzone – eine der ersten der Welt – war bereit, in Betrieb genommen zu werden.“
Am Montagmittag war sie bereits so überbevölkert, dass die Ladeninhaber, die zuvor mit Klagen gedroht hatten, weil sie zu wenig Zulauf befürchteten, die Ausdehnung der Zone beantragten. Am folgenden Wochenende hatte der Automobilclub seine Mitglieder mobilisiert, um das umgestaltete Terrain für das Auto wieder in Besitz zu nehmen. Ihr Autokorso wurde jedoch von einem Heer von Kindern zurückgedrängt, die riesige Papierrollen bemalten, welche sie in der Fußgängerzone ausbreiteten. Der Boulevard, heute Rua das Flores, Straße der Blumen, genannt, wurde schon bald zum Herzen Curitibas, auf dem inzwischen die Kinder jener Kinder jeden Samstagmorgen ihr Malfest veranstalten – in Erinnerung an die Aktion der Eltern.
1971, Brasilien war noch eine Militärdiktatur, hatte der Gouverneur des Bundesstaates Paraná einen 33 jährigen Architekten, Ingenieur, Stadtplaner und Humanisten namens Jaime Lerner zum Bürgermeister der Bezirkshauptstadt ernannt – im Glauben daran, dass ihm der unerfahrene Youngster nicht gefährlich werden könnte. Allerdings stellte sich schnell heraus, dass der visionäre junge Mann eine charismatische Führerfigur war. Am Ende ging er als der beliebteste Bürgermeister aller Zeiten in die Geschichte Brasiliens ein.
Wenn Lerner vom Umbau Curitibas spricht, spricht er vom „Wachstum auf dem Pfad der Erinnerung und des Verkehrs. Erinnerung“, sagt er, „ist die Identität der Stadt, und Verkehr ist die Zukunft.“ Öffentlicher Verkehr sei nicht nur ein Mittel, um Menschen zu bewegen, sondern auch ein Mittel zur Steuerung der Flächennutzung und zur Kontrolle von Wachstumsmustern, indem man nicht nur auf Verkehrsrouten, sondern auch auf Ausgangspunkte und Bestimmungsorte Einfluss nehmen müsse.
In anderen Städten hatte man Gebäude aufgekauft und abgerissen, um den Autos mehr Platz zu geben. Die Folge: trostlose, vom Verkehr erstickte Innenstädte. Im Gegensatz dazu hat Lerners Verwaltung den Straßenbau eingestellt und sich für eine Anpassung der vorhandenen Straßen entschieden. Die Hauptverkehrsadern erhielten drei Fahrbahnen. Die mittlere ist den Schnellbussen sowie dem Anliegerverkehr vorbehalten. Aus den beiden anderen Fahrbahnen sind Einbahnstraßen entstanden, die in die Innenstadt führen respektive aus ihr heraus. Jede Schnellbusspur befördert pro Stunde 20 000 Passagiere. Das entspricht etwa dem, was eine U-Bahn zu leisten vermag.
Allerdings kostete das Bus-System nur ein Hundertstel von dem, was eine U-Bahn gekostet hätte und ein Zehntel eines oberirdischen Bahnsystem. Für den Auf- und Ausbau benötigte man gerade sechs Monate. Rio de Janeiro hat U-Bahnen gebaut, die ein Viertel der Passagiere von Curitiba befördern, aber 200mal soviel gekostet haben. Indem in Curitiba Kapital- und Betriebskosten drastisch gesenkt werden konnten, hatte die Stadt genügend finanziellen Spielraum, um in seine soziale Infrastruktur zu investieren.
Bevor das Gelände entlang der Transitstrecken erschlossen wurde, hatte die Stadtverwaltung in kluger Voraussicht umliegendes Land aufgekauft, damit die Grundstückspreise nicht in die Höhe schießen konnten, und somit ein erschwinglicher Zugang zu Arbeitsstellen, Geschäften und Erholungseinrichtungen gewährleistet war. Außerdem baute sie in den Favelas Schulen, Kliniken, Tagesstätten, Parks, Märkte sowie Kultur- und Sporteinrichtungen. Damit wurde der Anreiz, mit dem Auto in die Innenstadt fahren zu wollen, extrem reduziert.
Um die soziale Gerechtigkeit und Integration zu fördern, wurde das gesamte Stadtgebiet durchsetzt mit kleinen, erschwinglichen Wohnanlagen. Die Pläne für die Flächennutzung waren der Öffentlichkeit zugänglich gemacht worden, so dass etwaigen Grundstücksspekulationen der Boden entzogen wurde. Heute ist Curitiba führend im Bereich des urbanen Recyclings, sein öko-soziales Schulsystem, das allen Kindern, vor allem auch den Armen, die Chance auf eine umfangreiche Schulbildung gibt, ist vorbildlich.
Indem die Stadt ihre Ressourcen sparsam einsetzte, unterbrochene Kreisläufe wieder schloss und bei den Bauvorhaben mit der Natur und nicht gegen sie arbeitete, entstand unter den Bürgern ein völlig neues Lebensgefühl. Natur und Kultur wurden wieder in den Alltag und das Arbeitsleben der Menschen eingebracht. Durch vielfältige Aktionen und Lernprogramme heilt sich die Gesellschaft quasi selbst.
Curitiba zeigt, wie man eine gesunde Ökossphäre und eine pulsierende, gerechte Wirtschaft zu einem „menschlichen Kapitalismus“ verbinden kann. Curitibas ist der gelebte Beweis, dass städtisches Leben neu und anders definiert werden kann.
Literaturangabe
Paul Hawken, Amory und Hunter Lovins: Öko-Kapitalismus: Die industrielle Revolution im 21.Jahrhundert – Wohlstand im Einklang mit der Natur. Bosten/Massachusetts, USA, 1999.