Demokratie neu denken
Letztlich, so meine These, wird es ohne eine grundlegende Reform der nationalen Demokratien auch keine gerechte Globalisierung geben.
Thilo Bode
Evolution der Demokratie
Dem obigen Motto soll im Folgenden zunächst mit der Vorstellung eines Modells Rechnung getragen werden, das eine Weiterentwicklung, um nicht zu sagen überhaupt erst die Ausgestaltung der Demokratie, vorschlägt. Es stammt von Johannes Heinrichs, einem Sozialphilosophen, der seinem Entwurf einer »Realutopie« zwei Grundannahmen vorausschickt: Zum einen konstatiert Heinrichs eine breite Kluft zwischen den Ansprüchen, die heute an eine demokratische Staatsform gestellt werden müssen, und den real existierenden Umsetzungen dieser theoretischen Ansätze. Zum anderen sieht er aber durchaus Chancen, den gewachsenen Anforderungen mit einem revolutionierten System gerecht zu werden.
Eine seiner ersten Diagnosen lautet: Die Demokratie ist nicht nur viel jünger, als sie in den Enzyklopädien beschrieben wird, sie ist noch dazu äußerst unreif. Alle als historisch gehandelten Ansätze – sei es die griechische Polis, die bäuerliche Demokratie in schweizerischen Kantonen des 13. Jahrhunderts, die englische Bill of Rights von 1689, die Unabhängigkeitserklärung der USA 1776 und ihr Vorbild, das »Große Gesetz des Friedens« (»Great Law of Peace«) der Irokesen, weisen bei näherem Hinsehen Defizite auf, die unser heutiges Demokratieverständnis nicht zufrieden stellen.
Wie sieht es beispielsweise mit einer der Grundlagen demokratischer Wahlen aus, dem allgemeinen Wahlrecht? Erst 1930 wurde es in England auch für Frauen eingeführt, in der Schweiz auf Bundesebene gar erst 1971. Das »Große Gesetz des Friedens« hingegen stammt aus der Zeit des europäischen Mittelalters und legte den Grundstein für eine Gesellschaft, in der die Häuptlinge zwar auf Lebenszeit eingesetzt wurden, aber von den Klanmüttern kontrolliert und notfalls abgesetzt wurden.
Auch Demokratie bedeutet Herrschaft
Der kanadische Politologe Crawford B. Macpherson hatte schon 1965 gezeigt, dass unser westlicher Begriff von Demokratie keinen Alleinvertretungsanspruch haben kann. Demokratie bedeutet zunächst nur als »Herrschaft für das Volk« ein Regierungsprinzip und als »Herrschaft durch das Volk« ein Regierungssystem. Macpherson stellte zu den liberalen Demokratien fest, dass es zuerst liberale Gesellschaften gab und dann die Demokratie als »Zugabe« kam. Es galt vorher bereits der offene Markt, das Konkurrenzprinzip und die Wahlfreiheit in der Gesellschaft. Und er sah die Demokratisierung als notwendiges Korrektiv zu den Folgen des Marktliberalismus, der zwar große Freiheiten brachte, aber auch sehr viel mehr Ungleichheit, die daraus entsteht, dass »nur einige wenige über angesammeltes Kapital verfügen, während die große Masse ihre Arbeitskraft anbieten muss«.
Die Viergliederung des Parlaments
Genau hier setzt Johannes Heinrichs an: Mit seinem Modell einer »Viergliederung des Parlaments« potenziert er die Gewaltenteilung. Er unterteilt das soziale System des Staates in die vier Subsysteme:
1. Wirtschaftssystem (Konsum, Produktion, Handel, Geld);
2. politisches System (Boden und Verkehr, innere und äußere Sicherheit, Außenpolitik, Rechts- und Verfassungspolitik);
3. Kultursystem (Pädagogik, Wissenschaft, Publizistik, Kunst);
4. Legitimationssystem (Weltanschauung, Ethik, Religion, Spiritualität).
Jedes dieser Subsysteme muss durch ein eigenes Parlament repräsentiert sein, also:
a. Wirtschaftsparlament,
b. politisches Parlament,
c. Kulturparlament,
d. Grundwerteparlament.
Diese Untergliederung ist nötig, damit die unterschiedlichen Interessen und auch die unterschiedlichen Interessenten zu Wort kommen – Parlament kommt vom Französischen parler = sprechen. Heute muss man sich entweder durch eine der Parteien, die die Fünfprozenthürde schaffen, vertreten sehen, oder man muss in einem der über 4000 Verbände organisiert sein, die durch Lobbyarbeit Einfluss auf die Abgeordneten nehmen. Wer sich dort nicht zugehörig fühlt, hat Pech gehabt: Seine Stimme bleibt ungehört.
Nach der Unterteilung des Parlaments in vier Parlamente müssten sich die Parteien allerdings umorientieren. Die bisherige weltanschauliche Ausrichtung (»christlich«, »sozial«, »freiheitlich«) müsste einer Sachorientierung weichen. Wer heute zum Beispiel die Grunen wählt, weil er für den ökologischen Landbau ist, wählt auch noch Positionen mit, die er unter Umständen persönlich überhaupt nicht teilt. Die heutige Wahl von Konglomeraten an Programmpunkten in einer Blockpartei verzerrt notgedrungen den Wählerwillen. Und wir erhalten ein »Einheitsparlament«, das auf alle Fragen eine Antwort geben muss. Entscheidungen können nur durch Fraktionszwang herbeigeführt werden, weil individuelles Abstimmen daran scheitert, dass kein Parlamentarier genau weiß, welchem konkreten Wählerwillen er eigentlich sein Amt verdankt.
Aus dem Buch „Equilibrismus“ von Volker Freystedt und Eric Bihl. Im Buchhandel vergriffen, aber als PDF erhältlich unter www.equilibrismus.de.