Worte essen Seele auf
Ich lese gerade ein wunderbares Buch des türkischen Nobelpreisträgers Orhan Pamuk, es heißt „Das neue Leben“. Darin findet sich eine Textpassage, die ich hier in Auszügen wiedergeben möchte, weil sie ausdrückt, was auch ich schon in sehr jungen Jahren empfunden habe:
„Als Kinder sahen wir die die Dinge in der Welt nicht wie im trüben Spiegel, sondern wie sie waren. Wie fröhlich wir damals waren, die wir benannten, was wir sahen. Die Zeit war die Zeit, der Unfall war ein Unfall, und das Leben war das Leben. Das war Glück und machte den Teufel unglücklich. Bis die große Verschwörung begann. Ein Mann, Gutenberg – Drucker nannten sie ihn und seine Nachahmer – vervielfältigte die Wörter in einem Maße, welches die fleißige Hand und die akkurate Feder nie erreichen konnten, und zerriss das Band der Wörter und verstreute Wörter wie Glasperlen in alle Himmelsrichtungen. Unter unsere Haustüren und über unsere Seifenstücke und Eierkartons packten sie Wörter und Schriften wie ausgehungerte Kakerlaken. So wandten das Wort und das Ding, die einstmals Fleisch und Bein waren, einander den Rücken zu. So brachten wir, wenn man uns fragte, was ist Zeit, was ist Leben, was ist Kummer, wenn man fragte, was ist Schicksal, was ist Leid, alle Antworten, die wir einstmals mit dem Herzen wussten, durcheinander, dem auswendig lernenden Schüler gleich, der die Nacht vor der Prüfung schlaflos verbringt. Die Zeit, meinte ein Tor, ist ein Geräusch. Der Unfall, meinte ein anderer Unseliger, ist Schicksal. Das Leben, meinte ein dritter, ist ein Buch. Wir ratlos Verwirrten, ihr versteht das, nicht wahr, wir warteten darauf, dass uns der Engel die richtige Antwort ins Ohr flüstern würde.“
QAls ich das gelesen hatte, es war im Zug nach München, musste ich das Buch beiseite legen. Als hätten mich die Sätze aufgefordert, ihrem Nachhall zu lauschen. Ich blickte aus dem Fenster, der ICE durchquerte eine niedersächsische Kleinstadt, die mit marktschreierischen Worten nur so gepflastert war. Nichts von dem, was mich von Hausdächern und Plakatwänden anbrüllte, mochte sich mir erschließen. Das Leben ist das Leben ist das Leben ist das Leben murmelte ich. Den Sinn dieses Mantras begriff ich erst, als die letzten Reihenhäuser hinter uns lagen und eine Herde Kühe stoisch wiederkäuend im Regen verharrte…