Maeva in Hamburg
Cording betrachtete die Bücher in Mike Kühlings Bibliothek. Sie sahen abgestaubt aus, aber nicht benutzt. Das Lesezeichen im »Mann ohne Eigenschaften« befand sich noch immer auf Seite 187, dort wo er es vor sechs Jahren stecken gelassen hatte, weil ihm eine Formulierung aufgefallen war, die ihm gut gefiel: »Man soll von Zeit zu Zeit den Geist in seinem eigenen Hause aufsuchen.«
Von diesem Raum aus hatte Mike ihn in seiner Eigenschaft als Chefredakteur von EMERGENCY in die Südsee entsandt – ohne natürlich zu ahnen, was daraus werden würde. Cording setzte den antiken Globus in Bewegung, für einen kurzen Moment fühlte es sich an, als bewege er eine Gebetsmühle. Mike Kühling, der just in diesem Moment die Bibliothek betrat, schien das ähnlich zu empfinden.
»Die Welt kann unsere Fürbitte gut gebrauchen«, sagte er, »ich drehe jeden Tag an dem Ding.«
Cording beobachtete die beiden südamerikanischen Haushälterinnen, die in dem beheizten Wintergarten den Frühstückstisch deckten. Die Elbe rekelte sich ausufernd in der herbstlichen Morgensonne.
»So breit hab ich sie gar nicht in Erinnerung«, bemerke er.
Kühling setzte sich an seinen Schreibtisch und legte die Füsse hoch. Alles in diesem Raum war schwer und düster, die getäfelten Wände, die Sessel, der Teppich, sogar die Aschenbecher. Bürobarock für Männer mit Verantwortung.
»Fällt dir nichts auf?«
Cording überlegte. Plötzlich fiel es ihm wie Schuppen von den Augen. Die Elbinseln Neßsand, Hahnöversand und Schweinesand waren von dem Fluss vollständig verschluckt worden!
»Schau mal nach links«, hörte er Mike sagen.
Wo war das Werksgelände von Airbus Industrie geblieben?! Abgesoffen, mitsamt der Startbahn! Ganz Finkenwerder war untergetaucht!
»Es ist noch Ebbe, mein Lieber«, sagte Kühling, »in wenigen Stunden haben wir einen Ozean vor der Tür, dann sind weder die Rudimente von Cranz, Neuenfelde oder Francop zu sehen, dann reicht die Elbe bis zu den Harburger Bergen. Sag mal, du scheinst dich die letzten Jahre nicht sonderlich für deine alte Heimat interessiert zu haben …«
Cording schluckte. Es war also eingetreten, wovor Wissenschaftler und Deichbauer seit Jahrzehnten gewarnt hatten: Die norddeutsche Tiefebene war dem steigenden Meeresspiegel nicht mehr gewachsen …
»Was ist mit der Innenstadt?«, fragte er benommen.
Wenn die Fluten, wie zu vermuten war, mit Vehemenz in die Fleete drangen, dürfte der Rathausturm allenfalls noch als Mahnmal zu besichtigen sein. Und mit ihm das ganze herrliche Ensemble rund um die Binnenalster, das einem Lokalpatrioten wie ihm jedes Mal das Herz höher schlagen ließ, sobald er von einer längeren Reise zurückkehrte. Wie sehr hatte er sich darauf gefreut, mit Maeva zwischen den Kandelabern der Lombardsbrücke zu stehen und zu beobachten, wie sie infiziert wurde von dem Zauber, den diese einzigartige Stadtlandschaft im Betrachter auszulösen vermochte.
»Die Innenstadt ist von der Katastrophe ausgenommen, nach Norden hin ist weitgehend alles wie gehabt«, hörte er Kühling sagen. »Das liegt an der zwölf Meter hohen Flutschutzmauer, die vom Fischmarkt bis zu den Elbbrücken reicht. Ein gigantischer Betonwall, hochgezogen in nur einem Jahr – sieht schrecklich aus, ist aber effektiv. Du hattest wirklich keine Ahnung, oder?«
Kühling schnitt eine Zigarre an. »Verglichen mit dem, was sich in Amsterdam abspielt, ist das hier noch Gold …«, fuhr er fort. »Wir haben Wilhelmsburg und Harburg aufgeben müssen, aber doch nicht gleich die ganze Stadt …«
Mike Kühling war von Natur aus ein sarkastisch veranlagter Mensch, seine Kommentare waren schon immer gewöhnungsbedürftig gewesen. Zum ersten Mal jedoch hatte Cording das Gefühl, dass die zynische Weltsicht seines Freundes angesichts der Realität angemessen war.
»Na bitte«, hörte er Mike sagen, »kaum duftet es im Haus nach Kaffee, wachen Steve und Shark auf … Sind übrigens richtig nette Jungs. Von Steve weißt du das ja, aber auch Shark wird euch von Nutzen sein, wenn er wieder richtig fit ist. Die GO!-Show hätte ohne ihn nicht funktioniert. Lasst ihn einfach machen, und ihr werdet eure helle Freude an ihm haben.«
Sie gingen hinaus auf die Terrasse und setzten sich an den üppig gedeckten Tisch. Wenig später erschien Maeva in der Tür. Sie trug einen schwarzen Rollkragenpullover, Jeans und ein umwerfendes Lächeln im Gesicht. Mike rückte ihr den Stuhl zurecht. Die Haushälterin deckte das Körbchen mit den Eiern auf und schenkte Tee und Kaffee ein. Maeva reckte sich und blickte auf den glitzernden breiten Strom zu ihren Füssen.
»Schön habt ihr es hier in Hamburg«, sagte sie. Dabei legte sie Cording die Hand aufs Knie: »Es tut richtig gut, in deiner Stadt zu sein …«
»Das freut mich«, antwortete Cording mit belegter Stimme.
Leseprobe aus MAEVA!