Warum brauchen wir einen Modellversuch?
Welches Gleichgewicht wäre denn wiederherzustellen, um unsere Überlebenschancen auf diesem Planeten zu erhöhen? Nun, es geht dabei nicht um irgendein bestimmtes Gleichgewicht, sondern es dreht sich um das generelle Respektieren des Gleichgewichtsprinzips in allen Bereichen! Das Leben findet als ständiger Pendelprozess um einen Gleichgewichtszustand herum statt, in für uns unglaublicher Langsamkeit. Deshalb ist es für uns Menschen von zentraler Bedeutung, innerhalb unserer vergleichsweise kurzen Lebensspanne nicht zu viel Unruhefaktoren in dieses Spiel zu bringen. Wir sollten, im Gegenteil, die in unserem jeweiligen Zeitalter geltenden Spielregeln möglichst umfangreich zu verstehen versuchen, um kreativ, aber nicht störend mitspielen zu können.
Manche Menschen scheinen die Naturregeln jedoch als dogmatische Sturheit der Natur aufzufassen, die uns nur in unserer freien Entfaltung behindern. Wir dürfen wohl davon ausgehen, dass »die Natur« nicht besserwisserisch ist, sondern sich mit dem Leben und seinen Grundbedingungen einfach besser auskennt. So könnte man selbstironisch sagen: Von der Natur lernen heißt überleben lernen. Wir kämpfen doch auch nicht ständig gegen die Tatsache an, dass wir alle paar Sekunden atmen müssen, um unsere Lebens- funktionen aufrechtzuerhalten. Wir haben uns sogar die Kenntnis über die Notwendigkeit der Sauerstoffzufuhr zunutze gemacht, um in für uns eigentlich nicht zugängliche, weil lebensbedrohliche Zonen wie den Weltraum oder die Tiefsee vorstoßen zu können. Warum nutzen wir unser Wissen nicht auch, um die Kreisläufe zu erhalten, die uns mit genügend Sauerstoff und allem anderen Nötigen versorgen?
Wenn wir uns dieser Einsicht verweigern, könnte uns einmal ein Szenario drohen, wie es der Autor Dirk C. Fleck in seinem Roman »GO! – Die Ökodiktatur« schildert. Um der Menschheit überhaupt noch eine Überlebenschance zu geben, schützen Öko-Räte die malträtierte Erde vor weiterer Ausbeutung, was ohne dramatische Beschränkungen und Gewalt nicht mehr geht.
Zu den konkreten Anwendungen des Gleichgewichtsprinzips gehören beispielsweise die Annäherung der ökonomischen Lebensverhältnisse aller Menschen sowie ihre Beteiligung an allen sie betreffenden Entscheidungen. Es gehört dazu der Respekt vor allem anderen Leben, ein ausgewogenes Verhältnis von Export und Import, also Geben und Nehmen. Auch die Reduktion der Schadstoffproduktion auf ein absolutes Minimum, eine Ausgewogenheit in der Ernährung, in Tätigkeit und Ruhephasen, in Weltlichkeit und Spiritualität gehören dazu. Dies verlangt ein völliges Umdenken, vor dem erfahrungsgemäß große Ängste und somit Ablehnung bestehen. Es werden zwar immer wieder Visionen gefordert, die jedoch, wenn es an ihre Umsetzung geht, sehr schnell zu Utopien erklärt werden.
Wir sollten uns dringend die Frage stellen, was utopischer ist: das Festhalten an unserem heutigen Lebensstil oder der Versuch,in einen Einklang mit der Natur zu kommen. Weitreichende Veränderungen sind bei der heutigen globalen Vernetzung offenbar nur noch durch das Sammeln von Erfahrungen anhand kleiner Praxismodelle möglich. Allerdings sollte man sich dabei nicht auf Laborsituationen und sozioökologische Sandkastenspiele beschränken. Erkenntnisse müssen sozusagen an einem »lebenden Organismus«, einer kleinen, aber real existierenden Volkswirtschaft gewonnen werden.
Grundbedingungen für einen Modellversuch
Die letzte Chance auf Erneuerungen im großen Stil mit sehr bald zu erwartenden Umwälzungen der weltweiten Wirtschaftssystemewird derzeit täglich vor unseren Augen vertan: Der ökonomische Aufbruch Chinas hätte aufgrund der Bevölkerungszahl und des enormen Nachholbedarfs eine immense Sogwirkung auf die in ihrem Brackwasser stagnierenden großen Wirtschaftsräume der Welt haben können – wenn sich dieser Aufbruch nicht des derzeit weltbeherrschenden Systems des Kapitalismus bedienen, sondern einen anderen Weg beschreiten würde. Der Kapitalismus ist zwar das freiere System, aber keinesfalls gerechter als der Kommunismus – und ebenso sein eigener Totengräber. Warum fällt der Gedanke so schwer, dass beide großen sozioökonomischen Systeme auf falschen Grundannahmen beruhen könnten und dass deshalb beide nicht funktionieren? Müsste man nicht froh über die Erkenntnis sein, weil so die Möglichkeit eröffnet würde, sich gemeinsam auf die Suche nach einem neuen Weg zu machen, indem man verschiedene neue Modelle ausprobiert und auswertet?
So aber werden sich die bereits existierenden Probleme durch die zusätzliche Beteiligung eines Fünftels der Menschheit an der Ausbeutung der endlichen Ressourcen und an der Belastung der Umwelt explosionsartig vergrößern, was als einzigen positiv zu bewertenden Effekt eine Beschleunigung der Einsicht zur Folge haben könnte, dass wir definitiv auf dem falschen Weg sind.
Was wäre gewesen, wenn China die Weichen für seinen rasant wachsenden Energiebedarf von Beginn an in Richtung erneuerbare Energien gestellt hätte und seinen Rohstoffbedarf durch einen möglichst hohen Anteil an Werkstoffen aus nachwachsender Biomasse zu decken versuchte? Es wäre damit weitgehend autark und von Weltmarktpreisentwicklungen, die es derzeit selbst durch seine hohe Nachfrage anheizt, unabhängig. Es hätte seine Exportabhängigkeit vermindern können, und es hätte bald einen technologischen Erfahrungs- und damit Marktvorsprung in diesen Bereichen sicher gehabt. Neben diesen positiven Auswirkungen für die chinesische Wirtschaft hätte die ganze Welt durch eine niedrigere Umweltbelastung profitiert.
Doch nun kann man nur sagen: Besser ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende. Trotzdem ist es schade, denn es hätte auch anders laufen können. Denn gerade eine der Grundbedingungen, die ein »Testgebiet« für einen Modellversuch erfüllen müsste, nämlich eine relativ hohe Abgeschlossenheit von den anderen Wirtschaftsräumen, wurde ja von China trotz seiner Größe bis vor kurzem noch sehr weitgehend erfüllt!
So besteht die heutige Aufgabe darin, ein Gebiet für eine praktische Erprobung eines neuen sozioökologischen Wirtschaftsmodellszu finden, das folgende Charakteristika aufweist:
+ Es sollte sich um einen geografisch kleinen Wirtschaftsraum handeln mit einer Größe zwischen 10 000 und 15 000 Quadratkilometern (dies trifft auf 39 Staaten zu, also auf 20 Prozent aller Staaten).
+Die Bevölkerungszahl sollte zwischen einer halben und einer Million Einwohnern liegen (dies gilt für 42 Staaten, also22 Prozent).
+ Wünschenswert ist eine geografische Alleinlage (zum Beispiel eine Insel), wo ein Abschotten von den internationalen Problemen leichter fällt.
+ Die Bevölkerung sollte so naturnah wie möglich wirtschaften und weitgehend über notwendige Ressourcen verfügen, da eine hohe Import- und Exportabhängigkeit (Rohstoffe, Energie, Nahrungsmittel, Gebrauchsgüter) eine eigenständige Entwicklung nicht zulässt.
+ Um gegen politischen, sozialen und ökonomischen Druck vonseiten der umliegenden Länder geschützt zu sein, wäre eine Region günstig, die staatsrechtlich ein Teil Europas ist.
+ Damit wäre in Europa auch in der Bevölkerung ein breiteres Interesse am Verlauf dieses Modellversuchs zu erzielen, mit einer dementsprechenden moralischen und politischen Rückendeckung.
+ Gleichzeitig sollte es aber eine demokratische und von Europa unabhängige Regierung geben.
+ Die Region sollte über eine eigene Währung und ein eigenes, sehr einfaches Steuersystem (möglichst nur Mehrwertsteuer und Verbrauchssteuern) verfügen.
+ Seine wirtschaftliche, politische und militärisch-strategische Bedeutung sollte möglichst gering sein, sodass keine zu ängstliche Kontrolle und keine zu starke Einmischung vonseiten der Großmächte zu befürchten ist.
+ Die Region sollte beüglich ihrer Probleme bereits einen Leidensdruck aufgebaut haben und zu Lösungsschritten gewillt sein.
+ Gleichzeitig sollten die Probleme nicht zu komplex sein, das heißt, es sollte nicht an zu vielen Ecken und Enden kriseln.
+ Die Region sollte so fruchtbar sein, dass sie die Grundversorgung ihrer Einwohner sicherstellen kann.
+ Darüber hinaus sollte sie über eine erneuerbare Haupteinnahmequelle verfügen (zum Beispiel Ökotourismus), um im Austausch die benötigte und noch nicht selbst herstellbareTechnik importieren zu können.
+ Um die Chancen einer raschen Ausbreitung von positiven Entwicklungen durch Nachahmung zu erhöhen, wäre es ideal, wenn die Modellregion von anderen kleinen Staaten umgeben wäre, die den Modellversuch ohne große Schwierigkeiten adaptieren könnten.
+ Die Bereitschaft zur Durchführung des Modellversuchs sollte mittels einer Informationskampagne und eines Referendums aus der Bevölkerung kommen und nicht als technokratischer oder politischer Zwang von oben.
+ Um diese Bereitschaft zur Teilnahme an einem Experiment zu fördern, müssten die Kosten der Anschubfinanzierung von einem internationalen Fonds übernommen und für das nicht auszuschließende Risiko des Scheiterns von einer größeren Staatengemeinschaft (UN oder EU) eine Kompensation in Aussicht gestellt werden – denn schließlich geschieht der Versuch im Interesse aller. Es wäre auch gut, für den Fall des Erfolgs eine Prämie auszuloben.
Um noch einmal das Ziel dieses Modellversuchs klarzustellen:
Es geht nicht um Reformen im bestehenden System, sondern um die Entwicklung und Erprobung eines völlig neuen Systems. Dazu muss man die Spielregeln des alten Systems nicht nur nicht kennen, sondern es ist sogar besser, sie zunächst völlig zu vergessen, was den meisten »Systemveränderern« und »Visionären « leider nicht konsequent genug gelingt. Wenn ich ein Spiel wie »Monopoly« ablehne, weil es den Egoismus, das Konkurrieren und Kaputtmachen anderer zum Ziel hat, und ein Spiel entwickeln möchte, das Kooperation zum Inhalt hat, so nehme ich doch auch nicht die Spielregeln von »Monopoly« und bemühe mich um Modifizierungen der Regeln. Besser fahre ich, wenn ich ein weißes Blatt Papier nehme, worauf ich einen eigenen Spielplan und völlig neue Regeln entwickeln kann.
Aus dem Sachbuch „Equilibrismus – Neue Konzepte statt Reformen für eine Welt im Gleichgewicht“ vom Volker Freystedt und Eric Bihl. Signum-Verlag, 2005.
Sinnlich erfahrbar gemacht wird der Equilibrismus in den Romanen von Dirk C. Fleck „Das Tahiti-Projekt“ und „Maeva!“.
Alle drei Bücher sind über www.equilibrismus.de zu bestellen.