``Wir leben mit geborgter Zeit``
„Die westliche Gesellschaft ist blind für die Realität. Wir werden von Wahnsinnigen regiert, die nicht sehen, auf welchem Weg sie sich befinden. Die Rohstoffe, denen wir unseren heutigen Lebensstandard verdanken – Kohle, Erdöl, Erdgas – stammen aus einer Zeit, die sich jenseits unseres Vorstellungsvermögens befindet.
Dies erleichtert die gedankenlose Nutzung. Wir leben sozusagen mit geborgter Zeit: Die Maschinen unserer Zivilisation laufen nur, weil vor 350 Millionen Jahren ein biologischer Prozess in Gang gesetzt wurde, der uns heute fossile Brennstoffe liefert. Die Quelle aller wirtschaftlichen Entwicklung ist die Natur. Was immer Menschenhände erschaffen haben, und wenn es ein Geldstück ist, kommt aus der Natur. Das Geld ist für euch Realität, nicht aber jene Vorstufe, die es euch möglich macht, Geld herzustellen. Nichts auf dieser Welt kommt von außerhalb und trotzdem benehmt ihr „Rationalisten“ euch, als wären alle Rohmaterialien Geschenke unbekannter Herkunft.
Eine solche Geisteshaltung kann nicht gutgehen. Die Erde warnt uns bereits inständig: Wetterveränderungen, Erdbeben, Baumsterben – die Krankheitssymptome dieses lebenden Körpers namens Erde sind eigentlich für jeden sichtbar. Doch ihr wendet euch ab, ohne zu begreifen, dass ihr Teil des kranken Körpers seid. In den Prophezeiungen meines Stammes heißt es, dass wir eine Zeit erleben werden, in der weltweit die Bäume sterben. Ich triumphiere nicht, dass sich die Prophezeiungen meines Volkes erfüllen – aber sie haben sich nun einmal erfüllt, und wir müssen handeln.
Die Erde wurde von euch infiziert, und jetzt drückt ihr euch vor der Konsequenz. Euer Verhalten könnt ihr nur korrigieren, wenn ihr euer Bewusstsein ändert. Nur ein spiritueller Umgang mit der Umwelt kann die Erde und uns noch retten. Für die Nichtindianer nur schwer zu begreifen ist die Tatsache, dass die Lösung der Probleme nichts mit Wissenschaft zu tun hat. Die Rückkehr zu einem spirituellen Verhältnis zur Erde läßt sich weder mit Computern noch im Labor herstellen. Ein spirituelles Verhältnis zur Erde ist keine indianische Besonderheit, auch keine rätselhafte Mystik, sondern schlicht die Behandlung, nach der die Erde verlangt.
Bis jetzt waren wir ziemlich erfolglos in unserem Bemühen, euch das verständlich zu machen. Ihr wißt nicht, was ein spirituelles Verhältnis zur Erde bedeutet. Sicher, einige von euch wissen es, aber eure Gesellschaft weiß es nicht. Eure Gesellschaft ist krank, ihr fehlen menschliche Eigenschaften. Eine Gesellschaft, die die Erde vergessen hat, weil ihr Realitätsbegriff die Natur ausklammert, ist ein Fall von Schizophrenie. Ich könnte mir nichts Verrückteres ausdenken, eine Kultur ohne Bindung zur Erde ist das Irrsinnigste, was ich mir vorstellen kann.“
Der Text stammt aus der Rede John Mohawks mit dem Titel „Botschaft an die Europäer“. John Mohawk ist Irokese (vom Stamm der Seneca) und wurde 1945 geboren. Er studierte Philosophie an den Universitäten von Buffalo und New York. Die Irokesen leben im Staate New York, erkennen die Vereinigten Staaten jedoch nicht als ihre Heimat an. Wenn sie an den UNO-Konferenzen in Genf teilnehmen, benutzen sie ihre eigenen Pässe, ebenso wie die Hopi. Mokawk ist einer der bekanntesten Sprecher des American Indian Movements (AIM).